piwik no script img

Linken-Politiker zu Macron-Vorschlägen„Deutsche Regierung wachrütteln“

Es sei gut, dass Macron eine Debatte über die Zukunft der EU anstoße, sagt Linken-Politiker Martin Schirdewan. Er will mehr Bekenntnis von Deutschland.

„Pulse of Europe“-Demo 2017: So kann Einsatz für europäische Integration aussehen Foto: dpa
Kevin Čulina
Interview von Kevin Čulina

taz: Herr Schirdewan, der französische Präsident Emmanuel Macron forderte am Montag einen „Neubeginn“ für die Europäische Union. Wollen Sie gemeinsam mit ihm aufbrechen?

Martin Schirdewan: Ich hoffe sehr, dass es ihm mit diesem Appell an eine verstärkte europäische Integration gelingt, die deutsche Bundesregierung aus ihrem europapolitischen Tiefschlaf wachzurütteln. Wenn man sich aber den Appell genauer ansieht, erkennt man, dass es sich vor allem um ein Remake seiner sogenannten Sorbonne-Rede handelt. Er scheint das Manuskript von 2017 wieder aus der Schublade gezogen und pünktlich zum Wahlkampf ein bisschen überarbeitet zu haben. Ich hoffe sehr, dass wir zu einer europapolitischen Debatte finden, in deren Zentrum die Frage steht, wie wir Europa sozialer gestalten können.

Ein solcher Appell für Europa von einem Staatschef ist in Zeiten des europaweiten Rechtsrucks und erstarkender Nationalismen also zu begrüßen?

Ich begrüße jeden Impuls, der dazu führt, über die europäische Integration und die weitere Entwicklung der Europäischen Union zu diskutieren. Gerade vor dem Hintergrund der Gefahr erstarkender Nationalismen und der europäischen Rechten muss man darüber nachdenken, wie man der Rechten politisch den Boden entziehen kann. Das sind vor allem sozialpolitische Forderungen, aber auch Fragen, wie man die Gesellschaft zukunftsfest macht. Wie man die Digitalisierung, den sozialökologischen Umbau, die Energiewende gestalten kann und dabei Jobsicherheit schaffen kann. Über solche Dinge müssen wir nicht nur im Wahlkampf reden.

Macron fordert, europäische Unternehmen zu bevorzugen und diejenigen zu sanktionieren, die „strategische Interessen“ und die Werte der EU missachten. Ist das ein Ruf nach „Europe first“?

Ich weiß nicht, ob Macron damit nach „Europe first“ ruft. Was ich hier interessant finde, ist, dass er unter anderem nach einem Unternehmensstrafrecht ruft. Und das halte ich für dringend geboten. Wir brauchen ein Unternehmensstrafrecht, das greift, wenn wieder ein neuer Geldwäscheskandal ansteht oder Banken in krumme, schmutzige Geschäfte wie Cum-Ex involviert sind. Wir müssen Steuertricks unterbinden. Ein Beispiel: Apple hat im Jahr 2014 in Irland 50 Euro Steuern auf eine Millionen Euro Gewinn bezahlt, das sind 0,005 Prozent Steuern. Da zahlt jede Bäckerei und jedes Friseurgeschäft an der Ecke mehr. Das sind unhaltbare Zustände.

Die Linke fordert offene Grenzen und Demilitarisierung. Macron fordert eine stärkere Grenzsicherung und eine europäische Armee. Da widersprechen Sie also?

Ich finde, dass Macrons Forderungen nach einer weiteren Aufrüstung der europäischen Union und die Verschärfung der Abschottungspolitik falsch sind. Die Linke fordert stattdessen, dass die Europäische Union einerseits Menschenrechte als universell erachtet und andererseits, dass sie zu einem friedensstiftenden Diplomaten wird und nicht zu einem säbelrasselnden Militär.

dpa
Im Interview: Martin Schirdewan

geboren 1975, steht seit dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 gemeinsam mit Janine Wissler an der Spitze der Linkspartei. Der in der DDR aufgewachsene Politikwissenschaftler gehört seit 2017 dem EU-Parlament an und ist dort Vorsitzender der Linken-Fraktion. Er gehört zum Reformerlager der Partei.

Wie ordnen Sie Macrons Ruf nach europäischer Solidarität und einheitlichen Asylstandards ein?

Ich glaube, dass wir dringend eine solidarische, offene europäische Migrationspolitik betreiben müssen. Ich weiß nicht genau, ob Macron dasselbe fordert, weil seine Abschottungspolitik eher auf das Gegenteil hindeutet. Dringend notwendig ist eine Reform des Dublin-Regimes und der europäischen Migrationspolitik hin zu einer gemeinschaftlichen, solidarischen Migrationspolitik.

Bei seiner Forderung nach europaweiter Grundsicherung und einem Mindestlohn dürften Sie hingegen Grund zur Freude haben, oder?

Ich finde wichtig, dass die Debatte über die Gestaltung sozialer Sicherheit in Europa angestoßen wird. Auch das ist etwas, das wir als Linke auf europäischer Ebene schon lange auf der Tagesordnung haben und versuchen auf die politische Agenda zu setzen. Aber wir fordern europäische Mindestlöhne, die sich als armutsfest erweisen, indem sie jeweils 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens betragen sollten. Wir fordern eine europäische Arbeitslosenversicherung und die Stärkung gewerkschaftlicher und Arbeitnehmer*innenrechte, um für gute Arbeit in der EU zu sorgen.

Macron schweben „Bürgerpanels“ vor, in denen die Zukunft Europas mit EU-Bürger*innen diskutiert werden soll. Wäre so etwas der Start für ein „Europa von unten“?

Bürgerpanels können eine sehr gute Ergänzung sein und einen wichtigen Beitrag leisten, weil viele verschiedene Sichtweisen da eingespeist werden. Ein „Europa von unten“ bedeutet für mich auch mit sozialen Bewegungen, mit Gewerkschaften und NGOs in konkrete politische Auseinandersetzungen zu gehen. So wie Gewerkschaften das auf internationaler Ebene bei Ryanair oder Amazon gerade tun; oder die Leute von der Seebrücke, die sich für universelle Menschenrechte einsetzen.

Deutschland und Frankreich sind jüngst zwar immer näher zusammengerückt, dennoch schweigt die Bundesregierung bisher zu Macrons Vorstoß. Welche Reaktion erwarten Sie?

Da kommt tatsächlich herzlich wenig. Die Bundesregierung scheint zu sehr mit sich selbst befasst zu sein, vor allem die Konservativen. Die haben gerade noch das Problem mit Viktor Orbán zu klären und wissen noch nicht genau, ob sie einen Europafeind in ihren Reihen dulden wollen. Ich erwarte viel mehr Commitment von Deutschland, was die weitere europäische Integration betrifft.

Macron sieht die EU durch nationalistische Stimmungen und Rufe nach einem Zurück zum Nationalen bedroht. Auch aus der Linken sind Stimmen gegen Europa und die EU zu hören. Muss eine neue europäische Begeisterung in der Linken geweckt werden?

Wir diskutieren ja unsere Widersprüche durchaus offen und transparent. Wir sind uns als Linke einig, dass ganz zentrale politische Fragen und Menschheitsfragen nur international und damit auch europäisch gelöst werden können. Das ist Common Sense in der europäischen Linken. Auch, dass wir einen Bruch mit der Austeriätspolitik und uns gegen die autoritäre Rechte positionieren und demokratische Rechte verteidigen wollen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Mehr Geld für das Militär und eine Cyber- & Überwachungsbehörde. Luftige Aussagen zu Mindestlöhnen.

    Wenn das die Hoffnung Europas ist?

  • meine prognose dass die reaktionären neoliberalen komponenten des Macronismus am widerstand einer mehrheit des französischen volkes und seine progressiven den neoliberalismus ansatzweise überwindenden komponenten an Merkel-deutschland scheitern würden hat sich als zutreffend erwiesen



    daran wird sich vermutlich auch in der nahen zukunft nichts ändern.

    bemerkenswert ist dass er aus dem gelbwestenaufstand etwas gelernt zu haben scheint.



    das angebot dass er europa macht,ist deutlich demokratischer sozialer und ökologischer geworden.



    die linken sollten es von den militaristischen komponenten abgesehen,annehmen und sich auf einem paneuropäischen dialog über die zukunft der europäischen union einlassen.



    dieser wird zwar auch scheitern,weil die neoliberalen kräfte in deutschland und osteuropa ihn scheitern lassen werden,aber er ist trotzdem sinnvoll,weil er die spaltung europas vorbereitet.



    diejenigen europäerInnen die ein demokratisches soziales ökologisches und souveränes europa statt dem europa des totalen marktes wollen müssen ohne die anderen weitermachen.und sollten nicht auf diese warten,weil sie sonst bis zum sankt-nimmerleinstag warten würden.

  • "verstärkte europäische Integration"?

    Sorry, da hat Herr Schirdewan, trotz der 2 Jahre in Brüssel, etwas nicht verstanden. Mehr Kompetenzen für die jetzige neoliberale EU, die dann bloß mit verhüllender Schönheitsrhetorik ausgestattet wird, nützt nicht gerade der Zielgruppe der Linken. Es sei denn, man möchte grün werden...

    • @agerwiese:

      Sorry, das sind die üblichen Fake News, diesmal (leider!) auf links genäht: wenn jemand das Neoliberale in der EU vorantreibt, dan ist es DE. Im Gegenteil -- von der Verhinderung der Rodung des Hambacher Forstes bis hin zu den Feinstaub- und NOx-Grenzwerten (die DE dann mit aller Macht versucht zu erweitern) kommen in letzter Zeit die Guten Impulse von der EU. Deutschland bremst dann immer wieder (auch beim Versuch, die Internetgiganten mal gerechter zu besteuern).

      Wir müssen nicht die EU "abschaffen" oder "zurückdrängen" -- es reicht, wenn wir das mit der EVP machen (hierzulande eben mit der CDU).