Linke vor NRW-Kommunalwahl: Eine Partei zwischen Euphorie und Enttäuschung
Die Linkspartei ist auch in Nordrhein-Westfalen im Aufwind. Bochum soll eine Hochburg werden. Bisher folgten aber auf Höhenflüge regelmäßig Abstürze.

Pulats Großvater war als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und hatte als Bergmann gearbeitet, sein Vater auch. Batıkağan ist der erste Akademiker in der Familie. Am 29. Januar, als Merz die Brandmauer zur AfD ramponierte, fasste Pulat einen Entschluss. Er trat aus der SPD aus und in die Linkspartei ein.
Am Sonntagmittag steht er auf der Schmechtingswiese in der Bochumer Mitte, einem weiträumigen Park neben dem Bergbaumuseum. Auf seiner rosa Baseballcap steht: „Eat the rich.“ Im Hintergrund ragt der grüne Förderturm des Bergbaumuseums 60 Meter in den blauen Himmel. Der ist nicht echt, sagt er. Der Turm stand einst in einer Zeche in Dortmund. Bergbau ist im Ruhrgebiet schon lange museal.
Die Bochumer Linkspartei macht auf der Schmechtingswiese ein Sommerfest: mit Hüpfburg, einem freundlichen Singer-Songwriter, einer Kugel Eis gratis für Kinder. Die Stimmung ist locker, die Ansprachen erfreulich kurz. Parteichef Jan van Aken hat sein „Tax the rich“-T-Shirt vergessen und wirbt um so entschlossener für die Enteignung von Wohnungskonzernen.
Die Kommunalwahl in NRW ist ein Test
Es reist gerade viel Berliner Parteiprominenz nach Westen. Der Star der Linken, Heidi Reichinnek, füllt Marktplätze zwischen Ostwestfalen-Lippe und Düsseldorf. Die Kommunalwahl in NRW ist für die Linkspartei ein Test, ob ihr Erfolg bei der Bundestagswahl mehr als ein One-Hit-Wonder war.
Sie ist auch ein Test, ob die Integration der neuen GenossInnen gelingt. Vor neun Monaten hatte die Partei in NRW 8.000 Mitglieder, jetzt sind es fast dreimal so viele, 22.000. Viele Jüngere, viele Frauen.
So wie Aleyna Karakurt. Die Soziologin, Mitte 20, ist seit gut einem Jahr in der Partei. In Bochum gibt es, sagt sie, rund um die Uni „eine aktive Antifa und freie Kulturszene“. Und die habe jetzt bei der Linkspartei angedockt, viele mit migrantischem Background.
Maria T., Mitte 30, Künstlerin, kümmert sich um den Haustürwahlkampf. Mieten plus Haustüren – bei der Bundestagswahl war das ein Zaubermittel. Bei der Kommunalwahl macht man es in Bochum genau so. Beim Haustürwahlkampf gehe man „raus aus der Bubble“, so Maria T. Nur so könne man die „Social-Media-Polarisierung durchbrechen“. Viele seien überrascht, dass „wir Linke gar nicht so schlimm sind“. Vor allem erfahre man an den Haustüren: „Vielen Leuten geht es einfach scheiße.“
Ansturm auf das einst sinkende Schiff
In Wattenscheid, im verarmten Norden, verteilt die Partei mit einem Foodtruck kostenlos Mittagessen. Auch an MigrantInnen, die nicht wählen dürfen. Aleyna Karakurt glaubt, dass die Partei beides machen muss: Feelgood-Sommerfeste in der netten rot-grünen Innenstadt und im abgehängten Norden präsent sein. Eine Genossin findet gendern wichtig, eine andere Klassenpolitik in Wattenscheid. In der Linkspartei zog „Klasse versus Wokeness“ früher einen kilometertiefen ideologischen Graben. Dort auf dem sonnigen Sommerfest scheint beides friedlich zu koexistieren.
Cansin Köktürk, linke Bundestagsabgeordnete aus Bochum, ist auch gekommen. Sie trägt eine Melonen-Klammer im Haar, Zeichen der Solidarität mit Gaza. „Bochum ist die schönste Stadt der Welt“, sagt sie fröhlich. Und Bochum könne „eine linke Hochburg werden“. Kühne Sätze – es gibt gerade viel Energie und Euphorie bei der Linkspartei in NRW.
Warum, das versteht man, wenn man Bernhard Koolen trifft. Koolen ist Rentner, einer der wenigen alten weißen Männer. Er war früher Rektor eines Gymnasiums in Dortmund und redet viel, schnell, energisch. Im letzten Jahr kamen zum linken Sommerfest 30 Leute. Es fand in der Praxis eines Physiotherapeuten statt, sagt er. Die Bochumer Linke war nach der Abspaltung des BSW geschrumpft. Die Fraktion im Stadtrat hatte sich faktisch aufgelöst. „Die alte Linkspartei ist untergegangen“, sagt Koolen. Umso verblüffter war er, als nach der verlorenen Europawahl im Sommer 2024 junge Leute kamen. „Wer geht denn auf ein sinkendes Schiff?“ Jetzt gibt es in Bochum fast 1.000 GenossInnen.
Trainingscamp NRW
Die Kommunalwahlen in NRW sind für die Neu-GenossInnen auch ein Trainingscamp in Sachen Politik. Rund 3.000 kandidieren zwischen Aachen und Paderborn für Stadträte und Bezirksvertretungen, Kreistage und Gemeindevertretungen. Die Partei bietet Schulungen in Kommunalpolitik an: Wie gründet man eine Fraktion? Wie liest man einen Haushaltsplan?
Kathrin Vogler (61) ist seit 2022 Co-Chefin der Linkspartei in NRW. Sie warnt: „Der Erfolg wird kein Selbstläufer“, sagt sie. Weil es bei Kommunalwahlen keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, werden manche, die im Bund Linke wählten, am 14. September bei lokalen Wählergruppen, Volt oder „Die Partei“ ihr Kreuz machen. „Ein Erfolg wäre, wenn wir überall, wo wir antreten, reinkommen. Auch in den Dörfern“, so Vogler zur taz. „Wir dürfen nicht größenwahnsinnig werden.“ Bloß nicht zu viel erwarten, dann ist der Frust umso größer.
Die Gretchenfrage
Der Realitätscheck in Bochum kommt nach der Wahl. Wenn die Linkspartei wie bei der Bundestagswahl in der Ruhrgebietsstadt zwölf Prozent bekommt, hat Rot-Grün im Stadtrat wohl keine Mehrheit mehr. Und dann? Mit Rot-Grün regieren?
Die linke OB-Kandidatin Wiebke Köllner (29) sagt: „Wir sind lieber Opposition.“ Aber, so die Altenpflegerin, es sei alles offen. Die Linke will, dass die Gewinne der Bochumer Wohnungsbaugesellschaft nicht mehr in den städtischen Haushalt fließen, sondern genutzt werden, um Häuser zu dämmen und Wohnungen zu renovieren. Wohnen, Bildung, Bürgerbeteiligung – das sind die Kernforderungen. Sie klingen eher nach Sozialdemokratie als nach Weltrevolution.
Ein langjähriges Linken-Mitglied
Andererseits hat Bochum, wenn man die städtischen Beteiligungen dazurechnet, 4,5 Milliarden Euro Schulden. Der gemeinsame OB-Kandidat von SPD und Grünen, Jörg Lukat, war bis vor Kurzem Polizeipräsident in Bochum. Mit einem Polizeipräsidenten einen Sparkurs zu verwalten, ist für junge energiegeladene Neu-Linke keine ad hoc faszinierende Aussicht.
Also Opposition? Die Linkspartei war in NRW oft dogmatisch ausgehärtet. Allerdings nicht überall. In Bielefeld regiert seit fünf Jahren solide eine rot-grün-rote Mehrheit die Stadt. Anruf bei Onur Ocak (37), dem OB-Kandidat der Bielefelder Linken. Ocak sagt: „Unsere Bilanz ist gut“. Allerdings ist der Verdi-Funktionär skeptisch, ob Mitte-Links weiter regieren kann. Die Grünen, so Ocak, wollen 2.000 Stellen in der Verwaltung einsparen. Man sei zwar offen, aber das sei für die Linke nicht akzeptabel.
Bemerkenswert ist, dass die Linkspartei die Frage „regieren oder opponieren“ nicht mehr als Glaubensfrage verhandelt, sondern pragmatisch. Vor allem die Parteilinke hatte in NRW eine ungute Neigung zu ufer- und fruchtlosen Debatten über die Gefahren des bürgerlichen Parlamentarismus im Allgemeinen und des Regierens im Besonderen. Parteichefin Vogler sieht da Veränderungen. Bei den Jüngeren, so ihre Bobachtung, finde man Sympathien für außerparlamentarischen Aktivismus und parlamentarische Bündnisse „oft in ein und derselben Person“.
Gelobt wird in der Linken auch der neue, verständige Ton. „Wir gehen achtsam miteinander um“, sagt Ex-Rektor Koonen. „Polemische Ausfälle werden nicht mehr geduldet“. Da spricht der Schulleiter in ihm. Parteichefin Vogler glaubt, dass der für Linke eher untypische freundliche Umgangston Gründe hat. „Viele der Neuen kommen aus Sozial-, Erziehungs- und Pflegeberufen. Da lernt man ein offeneres Kommunikationsverhalten.“
Ein Genosse, der schon länger dabei ist, sieht es ganz praktisch. Es sei ja schon erfreulich, dass man auf Parteiversammlungen nicht mehr von Sevim Dağdelen angebrüllt wird. Dağdelen war 15 Jahre lang die linke Bundestagsabgeordnete aus Bochum, dann ging sie zum BSW.
Die ewige Tragik der NRW-Linken
Für die Linkspartei geht es bei der NRW-Kommunalwahl um viel. Zwischen Rhein und Ruhr stimmen mehr WählerInnen ab als in ganz Ostdeutschland. Und NRW war für die Linkspartei irgendwas zwischen proletarischem Sehnsuchtsort und ewiger Sackgasse. Bei Bundestagswahlen schnitt sie oft gut ab, dann versank sie regelmäßig in Bedeutungslosigkeit, Dogmatismus und Sektierertum. Bei der Landtagswahl 2022 bekam sie nur zwei Prozent. Und jetzt? Wird diese manisch-depressive Abfolge von Euphorie und Absturz gestoppt?
Parteichefin Vogler glaubt an Besserung. „Wir haben bei Bundestagswahlen oft um zehn Prozent bekommen, hatten aber vor Ort zu wenig Mitglieder.“
Und auch noch die falschen. Ein Genosse blinzelt auf der Schmechtingswiese in die Sonne und sagt: Früher habe die Partei aus Gewerkschaftern und Ex-Revolutionären aus kommunistischen Splittergruppen bestanden. Das sei vorbei. Die Jüngeren seien undogmatischer, und nicht so verhärtet. Vor ein paar Jahren wären manche der Jung-GenossInnen bei Fridays for Future oder der grünen Jugend gelandet. Allerdings ist Fridays for Future auch ein Beispiel, dass hippe Bewegungen schnell wieder verschwinden können.
Der wortgewandte Neu-Genosse Batıkağan Pulat ist jedenfalls optimistisch. Er kandidiert im Wahlbezirk 12 Bochum Innenstadt-Nord/Schmechtingswiese. Bei der Bundestagswahl war die Linkspartei mit 26 Prozent die stärkste Partei. Pulat glaubt, dass er das Direktmandat für den Stadtrat holen wird. „Das ist ein linker Kiez“, sagt er. Es wäre ein Zeichen.
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