: 30.000 bei Demo wegen Inflation
Die Linksunion NUPES mobilisierte zu Protesten in Paris. Für Dienstag kündigen Gewerkschaften einen Generalstreik an
Von Rudolf Balmer, Paris
Es war der vielleicht einzige Lichtblick: Französische Medien haben am Wochenende versprochen, dass sich in Frankreich die durch Streiks seit vielen Tagen unterbrochene Versorgung mit Kraftstoff in 10 oder 14 Tagen normalisieren werde. In den beiden Erdölraffinerien von Esso-Exxon nämlich wurde nach einer Vereinbarung über Lohnerhöhungen der Streik abgebrochen und der Zugang zu den Depots freigegeben.
Doch die fünf Raffinerien der Gruppe TotalEnergies sind weiterhin blockiert. Die in diesem Kampf führende Gewerkschaft CGT hat ein Angebot der Unternehmensführung als ungenügend abgelehnt. Sie verlangt weiterhin rückwirkend ab Anfang 2022 10 Prozent mehr Lohn als Inflationsausgleich und eine Beteiligung an Konzerngewinnen von mehr als 10 Milliarden Euro.
Für Autofahrer, die oft vergeblich eine offene Tankstelle suchen oder stundenlang warten mussten, ändert sich vorerst also nur wenig, obschon nach offiziellen Angaben landesweit „nur“ noch 27 Prozent der Tankstellen Nachschubprobleme hätten. Wer wegen eines leeren Tanks immer noch nicht zur Arbeit fahren kann, hält solche Zahlen wohl für realitätsfremd und provozierend. Zugleich erweckt diese Krisensituation auch den Eindruck, dass der Staatschef und seine Regierung die Übersicht verloren und letztlich nichts im Griff haben.
Präsident Emmanuel Macron hoffte auf eine rasche Verhandlungslösung dank „sozialem Dialog“. Das wird ihm als Desinteresse oder Schwäche ausgelegt. Laut Umfrage in der Sonntagszeitung Journal du Dimanche meinen 82 Prozent, die Regierung tue ohnehin zu wenig, um die Inflation und ihre Folgen zu bekämpfen. Nach langem Zögern hatte die Regierung eine Zwangsverpflichtung von einigen Streikenden angeordnet. Gerichtliche Einsprüche der CGT dagegen wurden zwar abgewiesen, doch für die Gewerkschaften insgesamt bleibt diese behördliche Maßnahme ein Angriff auf das Streikrecht und eine Provokation.
In der Folge eskaliert jetzt der Konflikt nun erst recht. Seit Donnerstag bereits beginnen sich die Streiks für Lohnerhöhungen auf den ganzen Energiesektor auszuweiten. Mindestens zehn Reaktoren in sechs AKW (Gravelines, Bugey, Cruas, Cattenom, Belleville-sur-Loire und Tricastin) waren am Samstag betroffen, zusätzliche drei übers Wochenende. Als Konsequenz davon muss der Energiekonzern EDF zudem die in diesen Tagen oder Wochen geplante Wiederinbetriebnahme der wegen Wartungsarbeiten stillgelegten Reaktoren (26 von insgesamt 56) verschieben, was Auswirkungen auf die Stromversorgung in Frankreich und womöglich auf den europäischen Energiemarkt haben wird. Das ist ein gewichtiges Druckmittel für die Gewerkschaften bei EDF, die mit einem Ausgleich der Teuerung keine übermäßigen Forderungen stellen. Für die Gewerkschaften geht es bei dieser Kraftprobe um das Prinzip, dass nicht die Lohnempfänger*innen für die Inflation bezahlen sollen.
Die Ausweitung auf die Energiewirtschaft war darum nur die erste Etappe, denn für Dienstag haben zahlreiche Gewerkschaften einen gemeinsamen Aktionstag für höhere Löhne und Gewinnbeteiligungen angekündigt. Zusätzlich zum Energiesektor wollen die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes inklusive des Verkehrs, der LKW-Speditionen, des Gesundheitswesens und des Bildungssektors demonstrieren und streiken. Besonders erwähnenswert ist die Mobilisierung in privaten Branchen, in denen es in Frankreich seltener Konflikte gibt: in den privaten Kliniken, der Autoproduktion und anderen Industrien sowie den Supermärkten und Versicherern. Das verleiht diesem Aktionstag den Charakter eines Generalstreiks. Namentlich bei der Bahn SNCF wird eine Fortsetzung des Streiks erwogen. Da Ende der Woche die Schulferien beginnen, hätte die Regierung bestimmt gern auf weitere Engpässe im Verkehr verzichtet.
Hinzu kommt für die Staatsführung, dass sie in der derzeitigen Haushaltsdebatte für 2023 offenbar keine Mehrheit im Parlament hat und voraussichtlich gezwungen ist, gemäß Verfassungsartikel 49.3 die Vorlage ohne Abstimmung für angenommen zu erklären. Dass eine Regierung dieses allgemein als undemokratisch verschmähte Mittel einsetzen muss, gilt als Zeichen der Schwäche. Das wiederum möchte die Linksunion NUPES für eine Kraftprobe nutzen. Am Sonntagnachmittag demonstrierten rund 30.000 Menschen in Paris, dem Aufruf der Allianz von La France insoumise, Grünen und Sozialisten folgend, für den Erhalt der Kaufkraft und eine andere Klimapolitik. Auch Organisationen von Studierenden und Mittelschüler*innen machten mit. Die Gewerkschaften dagegen hatten sich diesem Appell nicht angeschlossen, da sie eine politische Instrumentalisierung ihrer sozialen Bewegung befürchten.
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