Lidokino 8 – Lange Filme: Erzählen und mahnen in unserer Zeit
Lidokino 8: Von lautem Kreischen, der Dauer als Dauer, dem Zerfall und den Breivik-Attentaten – lange Filme im Überblick.
Auf dem Lido lässt der Andrang in den Pressevorführungen langsam etwas nach, vor dem roten Teppich bleibt die Euphorie ungebrochen. Das Kreischen beim Auftritt von Natalie Portman im goldenen Kleid vor der Sala Grande erreichte annähernd Stadionwerte, ihre Rolle in „Vox Lux“, in dem sie im Wettbewerb von Venedig zu sehen war, rechtfertigt den Jubel ebenfalls.
Dieser Jahrgang hat einige lange Filme im Angebot. Die Spitzenwerte erreichen „Werk ohne Autor“ von Florian Henckel von Donnersmarck und „Nuestro tiempo“ von Carlos Reygadas, die beide drei Stunden beanspruchen, Reygadas allerdings nutzt die Zeit weniger zum strammen Durcherzählen wie von Donnermarck, sondern lässt Dauern schon mal als Dauern erleben.
In aller Ruhe erzählt der mexikanische Regisseur, der selbst die Hauptrolle des Dichters Juan Diaz übernimmt, von dem Zerfallen einer bürgerlichen Familie. Mit eigenwilligen Beziehungskonstellationen, in denen Juans Frau Ester (Natalia López) diverse außereheliche Bindungen eingeht, die Juan offiziell akzeptiert, jedoch erkennen lässt, dass seine wahre Vorstellung von Eheleben exklusiver ist.
Der Plot, der mitunter etwas von bürgerlich-neurotischer Nabelschau hat, ist dabei nicht das Entscheidende, was „Nuestro tiempo“ auszeichnet. Denn die auf einer weitläufigen Ranch gefilmte Geschichte bietet einige der schönsten Szenen dieses Wettbewerbs. Angefangen mit einer ausgedehnten Eingangssequenz, in der zunächst Kinder in schlammigem Wasser „Mädchen gegen Jungs“ spielen, um dann zu einer Gruppe Jugendlicher mit ihren ersten amourösen Schritten zu wechseln, bevor die eigentlichen Protagonisten der Elterngeneration in den Blick kommen. Alles beiläufig erzählt.
Feldzug zur „Befreiung Europas“
Sehr stark auch die vielen Szenen, in denen die schwer kontrollierbare Energie der auf der Ranch gehaltenen Stiere in heftig direkten Bildern festgehalten wird, wie eine Parallele zu den Kräften, die am Paar Ester und Juan zerren. Oder der lange Kameraflug über bewaldete Landstriche, hinter denen sich allmählich Mexiko-Stadt abzeichnet und der auf einer Landebahn endet, fast auf Höhe der Reifen. Nichts davon erscheint überflüssig, man lebt einfach in dieser Zeit mit.
Weniger auf wohlkomponierte Bilder als auf eine klar übermittelte Botschaft setzt Paul Greengrass in „July 22“. Der US-Amerikaner, der viel Erfahrung im Actionfach hat, liefert für den Wettbewerb von Venedig nach seinem norwegischen Kollegen Erik Poppe den zweiten Film des Jahres über das Massaker von Utøya am 22. Juli 2011.
Während Poppe in einer 72-minütigen Kameraeinstellung die Ereignisse auf der norwegischen Insel aus Sicht der jugendlichen Opfer gezeigt hatte, ohne den Attentäter Anders Breivik ein einziges Mal klar erkennbar im Bild erscheinen zu lassen, will Greengrass auch den Mörder selbst sichtbar machen.
Greengrass orientiert sich an Åsne Seierstads Buch „Einer von uns“ über Anders Breivik, schildert nur knapp das Morden auf der Insel, um dafür mehr Zeit für die Vorbereitungen auf den folgenden Prozess und das Leiden und die Traumata der Überlebenden zu haben. Mit norwegischen Darstellern, die im Film durchgehend Englisch sprechen. Auch Breivik selbst kommt, gespielt von Anders Danielsen Lie, ausgiebig zu Wort, schildert seinen geplanten Feldzug zur „Befreiung Europas“.
Der Film kommt nicht von ungefähr zu dieser Zeit von einem US-Amerikaner, kann man in seinen Warnungen gegen die Rechte auch eine mahnende Geste an das Land, das gerade von Donald Trump regiert wird, sehen. Greengrass wählt bewährte Hollywood-Instrumente, vom Thriller bis zum Rührstück ist alles vorhanden, die Musik trägt angemessen dick auf. Für ein breites Publikum mag das gut und richtig sein, für einen Wettbewerb ist es kein großer Wurf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!