Lesereihe in Berliner Spätis: Einmal Poesie, bitte
Mit vier Lesungen bringt das Berliner Kollektiv „Open Späti“ mehrsprachige Poesie in den Alltag – zwischen Kühltruhe und Tabakwaren.

Eigentlich wirkt alles recht gewöhnlich an diesem drückend heißen Sonntagabend im Weddinger Kiosk „Spätis Backshop – Von morgens bis Späti“: Menschen tummeln sich in kleinen Grüppchen zwischen den Kühltruhen, greifen nach kalten Limos und wedeln sich gegenseitig Luft zu. Weniger gewöhnlich sind die Gedichtbände, die sich zwischen Kaugummis und Schokoriegeln als Kiosksortiment tarnen.
Was hat Poesie im Späti zu suchen? Heute offenbar so einiges – zumindest, wenn man an den prall gefüllten Kühlschränken vorbei in den hinteren Teil des Berliner Spätis abbiegt. Hier stehen mit Perserteppichen überzogene Bänke, zu Hockern umfunktionierte Getränkekästen und ein kleiner Wohnzimmertisch, um den herum drei junge Frauen sitzen. Sie alle experimentieren mit Sprache, schreiben Gedichte – auf Englisch, Russisch, Tatarisch, Deutsch und Portugiesisch. Manchmal in mehreren Sprachen gleichzeitig.
Es ist die zweite von vier Lesungen, die das Kollektiv „Open Späti“ dieses Jahr veranstaltet. Bewusst haben die drei Kuratorinnen dafür die rund um die Uhr geöffneten, für Berlin prototypischen Minimärkte ausgesucht: Orte des Alltags, an denen es nie zu spät ist – für Tabak, Wassereis, Bier und ungezwungene Gesellschaft. Hier treffen Menschen aus unterschiedlichsten Lebensrealitäten ganz selbstverständlich aufeinander. In der Lyrik spüren die Kuratorinnen eine ähnliche Freiheit – eine, die es in und zwischen unterschiedlichen Sprachen auszuloten gilt.
Dinara Rasuleva steht als Erstes auf. Sie spricht schnell, wiederholt einzelne Worte mit Nachdruck und bewegt dabei ihren starren Blick abwechselnd zwischen Smartphone und Publikum hin und her. Das Gedicht, das sie vorträgt, ist größtenteils auf Tatarisch geschrieben – für viele im Raum eine noch unbekannte Sprache. Sie wird vor allem in Tatarstan gesprochen, einer autonomen Republik in Russland. Hier ist die Dichterin und Musikerin aufgewachsen.
27. Juli, 17 Uhr im „KiezKiosk Späti“ in Schöneberg zur Rolle von Sprache in kapitalistischen Strukturen
24. August, 17 Uhr im „Späti Karl & Marx Berlin“ in Neukölln zum Schreiben als kollektive Praxis
Muttersprache verlieren und wiederfinden
Viele Teile ihres Alltags fanden damals auf Russisch statt – sei es der Schulunterricht oder die Gespräche mit Freund*innen. So richtig erkannte Rasuleva den langsamen Verlust ihrer Muttersprache erst, als sie 2015 nach Berlin zog. Versuche, ihre damals noch ausschließlich russischen Gedichte ins Tatarische zu übersetzen, scheiterten. Statt die Sprache neu zu lernen, begann sie, sich schreibend zu erinnern. Sie nutzte Wörter, die ihr spontan einfielen oder sich im Schreibprozess erschlossen. Manchmal stupsten tatarische Freund*innen sie liebevoll an, wenn sie mit voller Überzeugung mal wieder ein Wort eingebaut hatte, das gar nicht existierte.
Mittlerweile benutzt Rasuleva in ihrem Alltag vier Sprachen: Russisch, Tatarisch, Englisch und Deutsch. Alle fließen in ihren Gedichten mühelos ineinander über. Der Klang von Worten ist dabei entscheidend. Sie sammelt Wörter, die sie an russische oder tatarische erinnern, und komponiert daraus Verse, die wie eine Melodie klingen. Und um die zu verstehen, muss man kein Tatarisch können.
Auch Inna Krasnoper arbeitet mit Klang und Rhythmus. Ob sie russische, englische oder deutsche Wörter nutzt, sei eine musikalische Entscheidung. Oft zerlegt sie Wörter in ihre Silben und verbindet, was ähnlich klingt. Beim Vortragen bewegt sich die Dichterin, die auch Tänzerin ist, durch den Raum und betont ihre Verse mit ausufernden Handbewegungen: „back ground / back stage / back stagnieren / to stash in a стог / squish oneself in a стог / stack onto / ac cumulate / ak upunktur“

Wer experimentiert, muss Gelerntes loslassen. Yessica Klein liest auf Englisch. Eine Sprache, die sie sich vor allem online aneignete und als „Niemandsland“ beschreibt: Einen noch nicht voll erschlossenen Poesiekosmos, auf dem sie tun und lassen kann, was sie will. Grammatikregeln brechen und dabei trotzdem irgendwie alles zusammenhalten. Ihre Muttersprache – brasilianisches Portugiesisch – fließe indirekt, über Bedeutungen, Klang oder Rhythmus in ihre englischen Texte ein.
„Wir müssen lernen, anderen Sprachen zuzuhören, uns für ihre Schönheit zu öffnen“, sagt die Co-Kuratorin Katarina Gotic Damiani, die selbst Dichterin ist und aus Bosnien kommt. In den Ländern Ex-Jugoslawiens sei die Idee der sprachlichen Reinheit gezielt eingesetzt worden, um Menschen voneinander abzugrenzen. Die Lesereihe will das Gegenteil: Sie zeigt, dass Sprache nicht trennt, sondern verbindet. Und dass es noch nicht zu spät ist, ihr zuzuhören.
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