Novelle von J. M. Coetzee: Die perfekte Rose

Seltsam antiquierte Anträge: In J. M. Coetzees neuer Novelle „Der Pole“ knarrt das Gebäude der romantischen Liebe.

Ein Rosettenfenster in blauem Licht am Ende eines Ganges im Karauserkloster von Valldemossa

Die Kartause von Valldemossa, zeitweilige Wohnung von Frédéric Chopin und George Sand, auf Mallorca Foto: Alex Timaios/picture alliance

Lesen kann man die Novelle „Der Pole“ von J. M. Coetzee an einem einzigen Vormittag; aber man wird danach möglicherweise viel Lebenszeit dafür aufwenden, über sie nachzudenken.

Die Handlung (eigentlich eher: Versuchsanordnung) ist schnell erzählt: Beatriz, Gattin eines wohlhabenden Mannes in Barcelona, knapp fünfzig Jahre alt, lernt den siebzigjährigen polnischen Pianisten Witold nach einem Konzert kennen.

Die erotische Kommunikation der beiden bewegt sich von Anfang an abseits gesellschaftlich eingespielter dating rules: Witolds Werbung um Beatriz bedient sich eines Repertoires von Wörtern und Gesten, das allenfalls in der Epoche seines musikalischen Idols Frédéric Chopin noch zeitgemäß gewesen wäre – hinter diesen passionierten Sprach- und Umgangsformen zeichnen sich die Konventionen der höfischen Liebe und des mittelalterlich-höfischen Versepos „Roman de la Rose“ ab.

Aus dessen 700 Jahre altem Bilderfundus stammt auch das Dingsymbol dieser sehr klassisch gebauten Novelle: eine kostbar geschnitzte hölzerne Rosenblüte aus dem Besitz Frédéric Chopins, die Witold seiner nach jenen traditionellen Vorschriften Angebeteten in ihrem Ferienhaus auf Mallorca (dem Ort der Liebes- oder besser: Verehrungsgeschichte zwischen dem Komponisten und der feministischen Schriftstellerin George Sand) zeremoniell überreicht.

Nach allen Regeln der Ehebruchskunst

Beatriz begegnet Witolds seltsam antiquierten Anträgen absolutement moderne: einerseits verwundert skeptisch, andererseits realistisch handfest. Sie manövriert ihren Ehemann nach allen Regeln der Ehebruchskunst aus, findet sich allein mit Witold im familiären Ferienhaus und lädt ihn unverblümt ein, sie nachts zu besuchen. „‚Jetzt hast du mich also besessen‘, sagt sie. ‚Du hast deine gnädige Dame gehabt. Bist du endlich zufrieden?‘“ – und Witold entgegnet: „Mein Herz ist voll.“

J. M. Cotzee: „Der Pole“. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Fischer, Frankfurt a. M. 2023, 144 Seiten, 20 Euro

In diesem einerseits klassischen, andererseits komischen Dialog stehen sich am traditionellen Wende- oder Krisenpunkt der Novellenform moderne und höfische Liebesauffassung gegenüber. Nach ein paar Tagen reist Witold ab. Beatriz hat ihn weggeschickt. Das Nächste, was sie zwei Jahre später von ihm empfängt, ist die Nachricht seines Todes. Ihr Vater habe ihr ein Konvolut von Gedichten hinterlassen, sagt Witolds Tochter am Telefon.           

In einer vernachlässigten Wohnung in einem hässlichen Außenbezirk der polnischen Hauptstadt findet sich ein Karton voll literarisch nicht besonders gelungener poetischer Versuche, deren Zitat im Prosatext noch in der Übersetzung einer auf Wirtschaftsverträge spezialisierten Übersetzerin die volle Wucht der poetischen Tradi­tio­nen der Renaissance entfaltet:

„Der Fremde muss wissen, dass dieser Mann jahrelang gereist ist und die Harfe in vielen Ländern gespielt hat und zu Tieren gesprochen hat. Der Fremde muss wissen, dass dieser Mann den Tritten Homers und Dantes gefolgt ist, in dunklen Wäldern gehaust und die weinfarbene See überquert hat. Er fand die perfekte Rose zwischen den Beinen einer gewissen Frau und erlangte so endgültigen Frieden. Er singt sein Lied in Warschau, der Stadt seiner Geburt und seines Todes, und er singt es zum Preis der Frau, die ihm den Weg gewiesen hat.“

Posthumer Dialog

Posthum tritt Beatriz in das literarische Spiel ein: Sie schreibt dem Toten Briefe, in denen die Paradoxien, Ungleichgewichte, Frustrationen und Seligkeiten der traditionellen Geschlechterverhältnisse komplementär – nämlich aus der weiblichen Perspektive – thematisiert werden. Aus diesem Blickwinkel sehen sie plötzlich ganz anders aus:

„Du hattest das ganze knarrende philosophische Gebäude der romantischen Liebe hinter dir, in das du mich als deine donna und Retterin eingefügt hast. Ich hatte keine solchen Ressourcen, abgesehen von dem, was ich als rettende skeptische Haltung zu Gedankengebäuden betrachte, die lebende Wesen zerstören und vernichten.“

Der letzte Satz der Novelle lautet: „PS: Ich werde wieder schreiben.“ So endet das Buch mit dem utopischen Ausblick auf eine erotische Kultur, die jenseits des klassischen Modells gleichberechtigter wäre, als seit sieben Jahrhunderten denkbar gewesen ist.

„Der Pole“ ist, wie überhaupt die letzten Bücher Coetzees, zuerst in spanischer Übersetzung erschienen, eine Reverenz des englischsprachigen Schriftstellers gegenüber der Literatursprache des Südens, die ­Coetzee, seit einigen Jahren Inhaber einer Professur für „Literaturen des Südens“ an der Universidad Nacional San Martín in Bue­nos Aires, als professioneller Literaturwissenschaftler (der er neben seiner Schriftstellerkarriere lebenslang eben auch war) lehrt und erforscht. In der Sprache der weltliterarischen Gatekeeper in London und New York wird seine Novelle erst später erscheinen.

Es ist kein Zufall, dass das Personal seines modernen Experiments mit der petrarkisch-dantesken Tradition polnisch und spanisch denkt, spricht und schreibt, in Sprachen ehemaliger Kolonien. Seine Novelle ist eine Versuchsanordnung mit der Liebe in postkolonialen Zeiten: einer Epoche, die Machtverhältnisse nicht nur zwischen Gesellschaften und Kulturen, sondern auch zwischen den Geschlechtern neu – und vielleicht gerechter – aushandelt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.