Lernen zu Hause: Das Schul-Experiment
Jahrelang war digitales Lernen für Lehrer:innen und Schüler:innen ein Randthema. Corona ändert das. Alle lernen digital. Geht das?
Mittwochmorgen, 10.25 Uhr. Eigentlich säße Carla* seit 8 Uhr im Philosophieunterricht. Doch ihre Schule, das Berliner John-Lennon-Gymnasium, ist wie alle anderen Schulen bundesweit seit Wochenbeginn geschlossen. Carla hat also ausgeschlafen. Nun schaut sie auf ihr Smartphone – der Unterricht kann beginnen.
Sie tippt auf die Lernapp. Zwei neue Nachrichten sind eingegangen. Eine von der Philosophielehrerin. „Das Philosophieren findet vorerst im stillen Kämmerlein statt und nicht in diskussionsfreudiger Runde. Für Mi findet ihr unter ‚Pläne‘ zwei Aufgaben als Aufträge“, schreibt sie. Die Ergebnisse sind über den gleichen Raum abzugeben. Cordula seufzt. „Mist, bis morgen“. Auch der Englischlehrer hat um 8 Uhr eine Nachricht geschrieben und mehrere Texte hochgeladen. Bis nächsten Montag müssen alle Schüler:innen eine Zusammenfassung schreiben. Um 23.59 Uhr ist Uploadschluss.
Die Schulen sind geschlossen, der analoge Unterricht fällt aus, mindestens bis nach den Osterferien. Vielleicht das ganze restliche Schuljahr. Und plötzlich ist es da: das digitale Lernen, die Bildungsrevolution, wie sie Expert:innen seit Jahren fordern. Ausgerechnet ein Virus schafft, was die Kultusminister:innen seit Jahren nur halbherzig anpacken. Doch sind die Schulen überhaupt darauf vorbereitet?
Auf die Frage antwortet Nico Wirtz mit einem Lächeln. „Gegenüber vielen anderen Schulen haben wir drei Jahre Vorsprung“, sagt Wirtz. Der 48-jährige Sprachlehrer sitzt in einem leeren Klassenzimmer am John-Lennon-Gymnasium in Berlin, hinter ihm ein überdimensionales Whiteboard, im Regal Brockhaus-Bände. „Für uns ändert sich eigentlich nicht viel“, sagt Wirtz. „Schon vor Corona haben wir täglich digitalen Unterricht gemacht.“
Der E-Learning-Lehrer: Umfragen in Minuten
Nico Wirtz ist an der Schule erster Ansprechpartner für seine Kolleg:innen in Sachen E-Learning. Konkret: für die Lernplattform „itslearning“, mit der Wirtz und seine fast 100 Kolleg:innen Materialien verschicken, Hausaufgaben stellen, Arbeiten benoten oder – über die Chatfunktion der Plattform – untereinander oder mit den Schüler:innen kommunizieren. „Umständliche E-Mail-Ketten gibt es bei uns nicht mehr“, sagt er. Jede Klasse, jede Schul-AG, jede einzelne Schülerin könne er direkt ansprechen. „Stellen Sie sich vor, wie lange eine Umfrage unter 850 Schülerinnen und Schüler normalerweise dauert. Bei uns ist das eine Sache von Minuten.“ Für die Arbeitserleichterung seien die Lehrer:innen am JLG heute dankbar.
Wirtz hat sich lange mit verschiedenen Anbietern beschäftigt, ehe er sich vor gut drei Jahren für die kommerzielle Plattform „itslearning“ entschieden hat, die Ende der 90er von norwegischen Studierenden gegründet wurde und heute nach Angaben der Betreiber:innen von sieben Millionen Schüler:innen weltweit genutzt wird. Auch in Berlin gebe es mittlerweile ein paar Schulen, die mit der Plattform arbeiten.
Auch Antoneta Berisha nutzt „itslearning“ für ihren Unterricht. Die Schulleiterin des John-Lennon-Gymnasiums unterrichtet Kunst und Französisch. Auf Ihrem iPad zeigt Berisha, wie das konkret aussieht. „Hier sehen Sie eine Arbeit, die wir zuletzt in meinem Kunstkurs gemacht haben“, sagt Berisha, eine Schwarz-Weiß-Fotografie poppt vor Berisha auf. Die Schüler:innen sollten ein Selfie mit künstlerischem Anspruch machen – und auf die Plattform hochladen. „Fotografie ist für digitales Lernen natürlich sehr gut geignet.“
Die Wissenschaftlerin: Deutschland hinkt hinterher
Berisha weiß aber auch: Ihre Schule ist privilegiert. Alle Schüler:innen hätten Smartphones, in allen Elternhäusern gebe es Laptops oder Tablets. Auch das Geld für die Lernplattform „itslearning“, die sich nach Zahl der Accounts richtet und sich an ihrer Schule auf 6.500 Euro im Jahr beläuft, sei kein Problem. Vor allem aber lobt Berisha ihre Kolleg:innen: „Die meisten haben sich sehr offen für digitales Unterrichten gezeigt.“
Doch damit ist das JLG eher die Ausnahme. Bevor die Schulen schlossen, nutzten ein Viertel der Lehrkräfte digitale Medien täglich im Unterricht, und zwar am häufigsten in Form von Beamer und Smartboard im Frontalunterricht. Internetbasiertes und vernetztes Lernen? Ach was. Nur knapp ein Drittel der Lehrkräfte war der Meinung, dass digitale Medien die Schüler beim Lernen unterstützen könnten. Das zeigt die Internationale Studie zur Medienkompetenz von Schüler:nnen, ICILS.
Die Berliner Erziehungswissenschaftlerin Heike Schaumburg hat über Laptopklassen promoviert und gehört seit 2013 zum deutschen Konsortium von ICILS. Andere Länder seien viel weiter als Deutschland, berichtet sie und verweist etwa auf Dänemark oder Uruguay. Dort nutzen weit über 80 Prozent der Lehrer:innen digitale Lernplattformen für den Unterricht. „In Deutschland fühlen sich nur ein Drittel der LehrInnen kompetent für digitalen Unterricht“, sagt sie. Fortbildungen für digitales Lernen seien bisher nicht verpflichtend, entsprechend habe bei Befragungen nur jede vierte Lehrer:in angegeben, in den letzten zwei Jahren eine solche Fortbildung besucht zu haben.
Aber das, glaubt sie, könne sich jetzt ändern. „Digitaler Unterricht ist ja kein Hexenwerk. Wenn viele Lehrer:innen jetzt gezwungen sind, umzusteigen, und sehen, wie einfach das ist und welche Vorteile es bietet, kann sich digitales Lernen auch in Deutschland verbreiten.“
Der Schuldirektor: Wir müssen umsteigen
Die Basis sei gelegt. Mit dem Digitalpakt Schule, den Bund und Länder im vergangenen Jahr geschlossen haben, stehe das Thema ganz oben auf der politischen Agenda. Viele Bundesländer hätten zudem bereits zuvor kostenlose und für alle Schulen zugängliche Lernplattformen eingerichtet. In Berlin gibt es den Lernraum-Berlin, Rheinland-Pfalz bietet die Plattform Moodle an.
Bisher wurden sie wenig genutzt. Doch wie schnell sich die Schulen gerade wandeln, beobachtet auch Achim Walk. Am vergangenen Wochenende, als klar war, dass ab Montag keine Schüler:innen mehr in den Unterricht kommen dürfen, haben sich die Lehrer:innen an seiner Carl-Orff-Realschule im rheinland-pfälzischen Bad Dürkheim auf die digitale Zukunft eingestellt. Sie baten ihre Schüler:innen, sich auf Moodle anzumelden, ließen sich bei einem technisch fitten Kollegen schulen und meldeten sich ausnahmslos bei einem Chatdienst an, um sich im Kollegium austauschen zu können. Ein Kollege installierte vorsorglich auch ein zusätzliches WLAN-Netz im Lehrerzimmer – namens „Corona“.
„Jetzt haben es auch die Letzten verstanden, dass wir umsteigen müssen“, sagt Schulleiter Walk. Die neue Einsicht bringt den 47-Jährigen einen Schritt weiter hin zu seinem Traum: Unterricht komplett ohne Schulbücher, mit Tablets und schnellem WLAN in allen Klassen. Für ein Viertel der gut 460 Schüler:innen an der Carl-Orff-Realschule ist das schon Realität. Ab nächstem Schuljahr soll es nun in jeder Jahrgangsstufe eine reine iPad-Klasse geben. Ein Drittel der Kolleg:innen würde schon regelmäßig ohne Schulbücher lehren. Dank Corona, davon ist der Sozialkunde- und Geschichtelehrer überzeugt, werden es bald mehr sein.
Der Bund: 5 Milliarden Euro für digitales Lernen
Wenn Schulleiter Walk von seinen Plänen redet, klingt es so, als hätte er gerade die lange ersehnten Mittel aus dem Digitalpakt Schule erhalten. Doch weit gefehlt: Die Carl-Orff-Realschule hat noch keinen Cent erhalten. Schon vor einem Jahr hat er bei der zuständigen Kreisverwaltung sein Medien- und Entwicklungskonzept eingereicht, so Walk. Seither habe er von dem Schulträger nichts mehr gehört. Das erzeugt Frust: „Wer WLAN, Whiteboards oder Beamer in seiner Schule haben möchte, muss kreative Lösungen finden, um das zu finanzieren.“ Auf die Mittel des Digitalpakts könne er nicht warten.
Mit 5 Milliarden Euro unterstützt der Bund seit 2019 das digitale Lernen. Die Länder legen noch einmal 10 Prozent drauf. Fünf Jahre lang fließt das Geld. Doch es fließt spärlich. Rheinland-Pfalz stehen über 240 Millionen Euro für die digitale Ausstattung an Schulen zu. Bisher ausgezahlt: nicht mal eine halbe Million. In anderen Bundesländern sieht es ähnlich aus, wie eine Umfrage der taz ergab. In Bayern sind von 780 Millionen gerade mal 10 Millionen Euro bewilligt worden, knapp über 1 Prozent. Ähnlich viel wie in Niedersachsen, wo gut 6 von 470 Millionen abgerufen sind. Noch niedriger sind die Quoten in Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Es ist nicht so, dass die Länder geizen, es liegt vor allem am kleinteiligen Verfahren. In der Regel muss jede Schule, die Geld erhalten will, ein Medienkonzept erarbeiten und darin erläutern, wie Lernplattformen und Laptops den Unterricht bereichern können. Schon daran hapert es. In Bayern haben alle Schulen ihre Hausaufgaben gemacht, in Hessen die Hälfte der Schulen, in Berlin knapp 60 Prozent. Nordrhein-Westfalen strebt an, dass die Schulen bis zum Ende des Jahres ihre Konzepte einreichen. In Niedersachsen müssen dagegen erst Konzepte abgegeben werden, nachdem die Ausstattung steht.
Schließlich sind es die Schulträger, kommunale und private, die Geld beim Land für ihre Schulen beantragen können. Doch viele Anträge sind derzeit unbearbeitet. In Rheinland-Pfalz sind 3 von 17 Anträgen bearbeitet worden, 42 Schulen profitieren davon. 42 von 1.600 in dem Bundesland. In Berlin sind nach Auskunft der zuständigen Senatsverwaltung knapp 200 von 450 Anträgen für gut befunden worden. Der Rest sei noch unbearbeitet oder müsse überarbeitet werden. In Thüringen haben 3 von 35 Schulträgern bisher Zusagen erhalten. Die Mehrzahl, 31 nämlich, hat noch gar keine Anträge eingereicht.
Jedes Land setzt unterschiedliche Schwerpunkte. Bayern gibt das Geld bisher hauptsächlich für smarte Tafeln und mobile Endgeräte aus, während Nordrhein-Westfalen vor allem die IT-Infrastruktur ausbaut. So ist es auch in Berlin, sehr zum Leidwesen von Nico Wirtz: „Im Endeffekt werden wir dafür bestraft, dass wir uns so früh selbst um die digitale Infrastruktur gekümmert haben.“
Server überlastet
Ob die Regeln im Zuge der Pandemie jetzt vielleicht gelockert würden? Nein, heißt es aus den Ländern. Zudem gebe es erst einmal wichtigere Dinge, nämlich den Unterricht zu sichern. Viele Schülerinnen erhalten also Aufgaben per E-Mail oder haben Arbeitsblätter mitbekommen, wie Carlas Brüder etwa.
Dennoch: Das digitale Lernen nimmt gerade Fahrt auf. Und deshalb sind auch vielerorts die Server ausgelastet. Das sächsische Kultusministerium etwa hat angekündigt, am Wochenende die Serverkapazitäten für die landesweite Lernplattform „LernSax“ zu erhöhen. In den vergangenen Tagen hat sich der Zahl der Nutzer:innen auf rund 308.000 mehr als verdreifacht. Auch das Pädagogische Landesinstitut Rheinland-Pfalz, das die Schulen im Land rund ums Thema IT und E-Learning berät, hat die Serverleistung hochgefahren. Wie im Rest der Republik sind die meisten Lernplattformen durch die hohen Zugriffszahlen überlastet.
Das ist auch am Berliner John-Lennon-Gymnasium nicht anders. Auch der Anbieter der Lernplattform „itslearning“ muss erst seine Kapazitäten ausbauen. Lehrer Nico Wirtz empfiehlt seinen Schüler:innen deshalb, außerhalb der gewohnten Schulzeiten auf das Programm zurückzugreifen. Am Abend zum Beispiel.
Um 22.05 lädt auch Carla ihr letztes Arbeitsblatt hoch. Nicht auf its-learning, sondern auf google drive. Die Deutschlehrerin hatte da eigene Vorstellungen. „So, das war's für heute“, sagt Carla. Morgen geht's weiter. Unterricht in Deutschland ist derzeit vor allem: ein riesiges Experiment.
* Carla ist die Tochter der Autorin und möchte namentlich nicht genannt werden.
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