piwik no script img

Lernen, daß „da was ist“

■ Für Kinder mit Hirnverletzungen gibt es bald das erste Frührehabilitations-Zentrum

Es hätte nicht unbedingt sieben Leute gebraucht, um den überdimensionierten Spaten ins weiche Erdreich zu rammen. Wohl aber brauchte es viele Kräfte, um die neue Reha-Abteilung in Friedehorst hochzuziehen. Und so sah man gestern im Neurologischen Rehabilitationszentrum Friedehorst von Bürgermeister Henning Scherf bis hin zur Unternehmerinnen-Präsidentin Inge Sandstedt alle am gleichen symbolischen Spaten ruckeln – für den Aufbau einer Abteilung für Frührehabilitation. Sprich: Für ein Zentrum, wo Kinder mit Hirnschäden in die Alltagswelt zurückbegleitet werden.

Manchmal kommen sie schon im Zustand des Komas, wie der kleine Jochen*. Nach Monaten im Wachkoma kam er nach Friedehorst. Ein hoffnungsloser Fall – nur nicht für die Eltern. Die nämlich sahen ihren Sohn lächeln. Nicht immer und sowieso nicht, wenn Ärzte daneben standen. Mitleidig erklärten diese den Eltern, daß auch eine Augenbewegung noch nicht auf ein Bewußtsein hinweise. Diese aber beharrten: Immer wenn „Benjamin Blümchen“, der Hörcassetten-Elefant sein „Tuttuuut“ ausstieß, fing ihr Sohn an zu lächeln. Nur eben nicht, wenn die Ärzte da waren. Dann ging er in die Streckspastik und rührte sich nicht.

Jochen wurde wieder gesund. Und in Friedehorst wurde er zu einem Fallbeispiel dafür, daß Rehabilitation mehr ist als das Reizen von Gaumenzäpfchen durch Logopäden, um das Schlucken anzustacheln. Mehr als ein Kneifen über dem Schlüsselbein, zur Reaktionsüberprüfung. Das auch. Aber „Frührehabilitation ist Teamarbeit“, sagt Annegret Ritz, die leitende Ärztin am Reha-Zentrum, die nun für 14 Millionen Mark Bremens erste Abteilung für Frührehabilitation bekommt. Mit Platz für zehn Kinder und rund dreißig neue Mitarbeiter. Logopäden und Ergotherapeuten, Schwestern – und „Eltern!“, sagt Herbert Beims, der Oberarzt – und Neurologen und Psychologen. In Teamarbeit. Deswegen könne man diese Menschen auch nicht zu Hause behandeln. „Mit all unserer verschiedenen Beobachtungen“, sagt Annegret Ritz, müsse man man den Kindern wieder Eigenständigkeit beibringen. „Relais sind ausgefallen – jetzt muß ein neuer Regelkreis entstehen.“

Damit das gelingt, müssen alte Beziehungen neu eingeübt werden. Und Rhythmen: Tag und Nacht zum Beispiel. Das geht nicht unter der Dauerbeleuchtung einer Intensivstation. Es müssen Fehlschaltungen im Gehirn vermieden werden: Denn das schlenkernde Bein, das später als Behinderung erscheint, war vielleicht nur eine Fehl-Form der Selbstheilung. Vor allem aber müssen Ängste überwunden werden, ergänzt Herbert Beims. Ängste, die dazu führen, daß der kleine Jochen sich tot stellte, wenn er die Schritte der Ärzte hörte. „Wir müssen die Nichtwahrnehmung aufbrechen und selber verstehen, wo sie eigentlich längst schon aufgehört hat. Menschen, die linksseitig gelähmt sind, müssen wieder lernen, 'daß da was ist': Daß sie nicht ins Leere fallen, wenn man sie auf die linke Seite dreht.“

*(Name v.d. Red. geändert)ritz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen