„Ich
bin
zur
Hoffnung
verpflichtet“

Wie stark ist die russische Opposition? Leonid Wolkow, Autor von „Putinland“, über Kriegsmüdigkeit und dieHaftbedingungen des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny

Foto: ­Piotr Pietrus

Interview Andreas Fanizadeh

wochentaz: Herr Wolkow, wie geht es Alexei Nawalny?

Leonid Wolkow: Nicht gut. Nachdem er den Giftanschlag knapp überlebt hat, sitzt er seit Januar 2021 wieder in Haft. Er befindet sich im Straflager Nr. 2 in Pokrow, etwa 100 Kilometer östlich von Moskau. Seit Mitte August 2022 ist er dort isoliert und in eine winzige Strafzelle gesperrt. Sie ist 2,5 mal 3 Meter groß, ein Zwinger. Wir haben ihn nachgebaut und Ende Januar hier vor der russischen Botschaft in Berlin aufgestellt. Damit man sehen kann, welchen Folterbedingungen Alexei in Haft ausgesetzt ist.

Wie oft darf er den Zwinger verlassen, sieht er andere Menschen?

Einmal am Tag, um sich in einen Mini-Innenhof mit Mauern zu begeben, kaum größer als die Zelle. Aber dort sieht er wenigstens den Himmel.

Bei dem Giftanschlag wäre Nawalny 2020 fast gestorben. Wie ist sein Zustand heute?

Er spürt die Folgen des Anschlags. Er müsste sich viel bewegen, gut ernähren, Übungen machen, eine Physiotherapie bekommen. Doch er hat keine medizinische Betreuung, die Zustände in russischen Gefängnissen sind katastrophal.

Mit welcher Begründung hält man ihn seit Monaten in Isolation?

Nach ihren eigenen Vorgaben dürften sie ihn nicht so lange isolieren. Jetzt sind es bald sechs Monate. Er soll irgendwelche Regeln verletzt haben. Ein Knopf am Hemd war nicht zu. Oder sonst irgendetwas.

Sie sind ein enger Mitarbeiter Nawalnys. Ihre Bewegung legte die unfassbare Korruption des russischen Oligarchensystems offen. Es geht um Summen und Besitz in Milliardenhöhe. Wie schutzlos ist Nawalny nun in russischer Haft?

Alexei ist der prominenteste politische Gegenspieler Putins. Der prominenteste politische Gefangene in Russland. Sie wollen ihn in Haft so lange wie möglich leiden lassen. Er soll bedauern, dass er den Giftanschlag überlebt hat.

Sie sprachen mit Irina Scherbakowa kürzlich auf der Frankfurter Buchmesse. Sie alle sind inzwischen im Exil und rufen als russische Bürger dazu auf, die Ukraine zu unterstützen. Glauben Sie, man kann das Putin-Regime dort militärisch stoppen?

Davon bin ich fest überzeugt. Russlands Armee ist nicht so stark. Putin wollte die Ukraine in einem Blitzkrieg unterwerfen. Aber die Ukraine hält stand. Die Moral in der russischen Armee ist sehr schlecht. Die Motivation zu kämpfen gering. Tausende verweigern den Kriegsdienst.

Haben Sie dazu genauere Information?

Teilweise meutern ganze Einheiten. Auch die Stimmung in der Gesellschaft ist schlecht. In den Städten waren viele von Anfang an gegen den Krieg. Viele kennen die Wahrheit über den Krieg, schauen unsere Nachrichten und Videos.

Die Sie vom Ausland aus verbreiten?

Ja. Wir bleiben mit der Bevölkerung in Kontakt, widerlegen die Propaganda Putins. Millionen Menschen schauen monatlich über Youtube unsere Video­sendungen auf Russisch. Sie kennen die Wahrheit. Youtube ist in Russland nicht gesperrt. Putin lässt einen unberechtigten Angriffskrieg gegen die Ukraine führen. Wir kommen auf bis zu 15 Millionen Aufrufe monatlich.

Dennoch scheint die russische Armee unaufhörlich neue Kräfte an die Front gegen die Ukraine zu schicken.

Aber der Militärapparat erhält freiwillig keine Unterstützung aus der Gesellschaft. Die Armee ist ineffektiv, hat hohe Verluste. Ihre Waffensysteme sind brutal. Aber was haben sie erreicht? Zehntausende Tote, ein zerstörtes, entvölkertes und besetztes Gebiet im Osten von geringer strategischer Bedeutung. Dafür wurden unglaublich große Ressourcen verwendet.

Wäre es nun an der Zeit, mit Putin und seinem Machtapparat einen gesichtswahrenden Frieden auszuhandeln?

Ich möchte dies hier so klar wie möglich sagen: Nein. Das ist eine Illusion. Es wäre ein katastrophaler Fehler und würde weitaus mehr Opfer kosten als derzeit schon in der Ukraine. Putin und keiner der jetzigen Anführer ist ein glaubwürdiger Verhandlungspartner. Putin würde nur verhandeln, um zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt erneut anzugreifen. Er hat getroffene Vereinbarungen und Verträge nie respektiert.

Woran machen Sie das fest?

Putin hat das Memorandum von Budapest gebrochen. Damit hatte Russland 1994 die territoriale Integrität der Ukraine anerkannt. Im Gegenzug übergab die Ukraine Russland die Atomwaffen. Russland hat die Konvention gegen chemischen Waffen unterzeichnet. Und produziert und verwendet doch Kampfstoffe wie Nowitschok. Minsk I und II, beide Abkommen hat Putin gebrochen. Dann der Überfall auf die Ukraine. Er ist ein notorischer Rechtsbrecher.

Wie interpretieren Sie das monatelange Zögern von Kanzler Scholz vor den Panzerlieferungen an die Ukraine?

Ich verstehe das deutsche Zögern im Hinblick auf die Geschichte. Wegen der Vergangenheit und des Zweiten Weltkriegs. Es berührt das deutsche Selbstverständnis. Aber wir leben nicht in der Vergangenheit. Der Krieg ist da. Putin muss in der Ukraine gestoppt werden.

Historiker wie Timothy Snyder berichten von Deportationen der ukrainischen Bevölkerung aus den von Russland besetzten Gebieten.

Die besetzten Gebiete sind zerstört, sie wiederaufzubauen wäre teuer. Für die Russifizierung fehlen ihm derzeit Menschen und Mittel. Also verteilt er Ukrainer von dort nach Russland.

Sie sprechen in Ihrem aktuellen Buch „Putinland“ von imperialem Wahn des russischen Führers. Worauf gründet er?

Putin ist Opfer seiner eigenen Propaganda. Er glaubt, was er sieht und glauben will. Er hätte schon Probleme, selbstständig im Internet etwas zu recherchieren. Er bekommt seine Informationen gefiltert in roten Mappen. Sie enthalten nur das, was er hören mag und was man sich ihm zuzumuten traut. So kam er auch auf die Idee, die Ukraine würde auf ihn und seine russische Armee warten und die alte Sowjetunion wiederhaben wollen. Aus einem gefährlichen Nostalgiker wurde ein von nationalem Wahn getriebener Imperialist.

Der Überfall auf die Ukraine hat Zehntausende russische Soldaten das Leben gekostet. Wie lange werden ihm die Russen noch folgen?

Die Unterstützung nimmt ab. Öffentliche Proteste sind in Russland aber derzeit fast unmöglich. Es ist ein totalitärer Staat. Wer gegen den Krieg protestiert, riskiert, jahrelang im Gefängnis zu verschwinden.

Wie hoch sind die Renten für Kämpfer, die als Invaliden aus dem Krieg zurückkehren?

In den ersten Monaten des Kriegs hat Putin versucht, Loyalität mit Geld zu kaufen. Für einen Gefallenen im Krieg bekamen Hinterbliebene sieben bis zwölf Millionen Rubel Kompensation. Enorm viel! Sieben Millionen Rubel waren umgerechnet etwa 100.000 Euro. Genug, um ein Auto oder kleines Haus zu kaufen. Damit ist es vorbei. Das Geld wird knapp. Stattdessen rekrutieren sie Gefangene, darunter Drogensüchtige.

Leonid Wolkow

Russischer Oppositionspolitiker, geb. 1980 in Jekaterinburg. Autor des Buches „Putinland“. Vertrauter Alexei Nawalnys. Lebt in Litauen. Auf dem Bild bei einer Aktion Ende Januar in Berlin.

Was ist mit Paramilitärs wie den Wagner-Söldnern?

Deren Verbände wurden auch mit Kriminellen aufgefüllt. Als Kanonenfutter. Oben führen ein paar Offiziere die Wagner-Gruppe an, unten krepieren diese vielen Namenlosen. Sie finden kaum mehr reguläre Freiwillige.

Wie trifft der Krieg Russlands Wirtschaft, die Oligarchen?

Für die Oligarchen ist es wirklich eine Tragödie. Sie haben Milliarden verloren wegen der Sanktionen. Auch mit ihrem Lebensstil ist es vorbei. Mit Privatjets nach London oder Paris oder auf der Jacht an der französischen Mittelmeerküste, das geht nicht mehr. Die durchschnittliche Bevölkerung trifft es natürlich härter. Wer vorher schon arm war, kann sich jetzt erst recht keinen Luxus leisten.

Käme so manchen Oligarchen ein Putsch gegen Putin gelegen, um mit dem Westen wieder zusammenarbeiten zu können?

Es wäre zu hoffen. Viele von ihnen, auch viele Generäle, sind sehr unzufrieden. Je länger der Krieg dauert, desto größer ihre Verluste.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Ich wehre mich gegen den Gedanken, die russischen Bürger seien nicht fähig zur Demokratie.“ Woher nehmen Sie Zuversicht?

Als russischer Politiker bin ich zur Hoffnung verpflichtet. Ich lebe ja jetzt in Litauen. Es war auch Teil der Sowjetunion. Sie haben dasselbe Trauma durchlebt wie wir. Mussten die Sowjetherrschaft überwinden. Wie in anderen Ländern des früheren Ostblocks haben sie heute eine funktionierende Demokratie. Die Menschen hier sind nicht so viel anders als in Russland. Die Mehrheit akzeptiert die Regeln der Demokratie, Rechtsstaat, freie Presse, faire Wahlen. Damit das auch in Russland gelingen kann, muss der jetzige Gewaltapparat zerstört werden.