Lehrerverbandschef über Bildungskrise: „Ein ganz schlechtes Omen“
Lehrerverbandschef Heinz-Peter Meidinger ist ein gefragter Schulexperte. Nun gibt er sein Amt ab. Zum Abschied nimmt er die Politik in die Pflicht.
taz: Herr Meidinger, bei unserem letzten ausführlichen Interview vor vier Jahren schien das Schuleschwänzen der Fridays for Future gerade das größte Schulproblem im Land zu sein – auch Sie waren damals als Schulleiter eines Deggendorfer Gymnasiums durchaus verärgert, dass Jugendliche das Klima für wichtiger hielten als Unterricht. Wie blicken Sie heute auf die Bewegung?
Heinz-Peter Meidinger: Ich begrüße, wie schon damals, dass sich so viele Jugendliche für den Erhalt unseres Planeten einsetzen. Was ich kritisiert habe, ist, dass das Engagement fürs Klima gegen die Schulpflicht ausgespielt worden ist. Als Schulleiter waren mir da die Hände gebunden. Heute spielen die Freitagstreiks an Schulen und in der Öffentlichkeit kaum mehr eine Rolle, alle reden über die „Klimakleber“ – allerdings darüber leider oft mehr als über den Klimawandel.
Sind Sie auch deshalb so versöhnlich, weil sich die Bildungskrise seither so drastisch zugespitzt hat? Ein Viertel der Grundschüler:innen kann nicht richtig lesen, die soziale Schere geht weiter auseinander. Gleichzeitig fehlen Zehntausende Lehrkräfte.
Aus heutiger Sicht wirkt es tatsächlich verrückt, dass wir uns so lange über die Klimastreiks und den damit verbundenen Unterrichtsausfall aufgeregt haben. Danach kam ja gleich die Pandemie und der Unterricht fiel erst mal für Monate aus. Und ja, Sie haben recht: Wenn sowohl der IQB-Bildungstrend als auch die IGLU-Studie beweisen, dass ein Viertel der Grundschüler nicht richtig lesen kann, ist das ein katastrophaler Befund. Und gleichzeitig ein ganz schlechtes Omen für deren weiteres Leben. Diese Kinder werden es auf ihrem weiteren Schul- und Lebensweg sehr schwer haben. Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen: Wenn im Dezember die Pisa-Ergebnisse veröffentlicht werden, dann werden wir auch bei den älteren Schüler:innen ähnlich besorgniserregende Ergebnisse haben.
Heinz-Pet er Meidinger
68, ist seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Meidinger war fast 20 Jahre Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf in Bayern.
Zu dem Zeitpunkt sind Sie dann schon nicht mehr Lehrerverbandschef. Ende des Monats geben Sie Ihr Amt an Stefan Düll ab. Werden Sie sich künftig aus Bildungsdebatten heraushalten?
Ich werde meinem Nachfolger auf jeden Fall nicht in die Suppe spucken und weiter im Namen des Deutschen Lehrerverbandes sprechen. Alles hat seine Zeit und es ist gut, dass ich jetzt den Stab an die nachfolgende Generation übergebe. Ich bin ja auch bereits seit zwei Jahren raus aus dem Schuldienst. Dennoch werde ich die Schulthemen weiterverfolgen. Und wenn ich gefragt werde, werde ich als Privatmann auch weiter meine Meinung sagen.
Bisher wurden Sie sehr oft nach Ihrer Meinung gefragt – auch weil Sie jederzeit für knackige Kritik zur Verfügung standen. Fällt Ihnen die Vorstellung schwer, bald nicht mehr Deutschlands Oberlehrer zu sein?
Ich verabschiede mich mehr mit einem lachenden als mit einem weinenden Auge. Ich freue mich auf viele Dinge, zu denen ich in den letzten Jahren so gut wie gar nicht mehr gekommen bin. Ich habe sehr viele Gesetzestexte und Studien gelesen, aber kaum Literatur. Ich bin ja Germanist. Es stehen viele ungelesene Bücher in meinen Regalen. Außerdem will ich wieder häufiger ins Theater gehen. Gerade überwiegt die Vorfreude auf die Zeit nach dem Amt.
In Ihrer Zeit als Lehrerverbandschef sind Sie mit teils sehr scharfen Formulierungen aufgefallen. Einmal bezeichneten Sie den Einsatz nicht ausreichend qualifizierter Quereinsteigender als „Verbrechen“ an den Schüler:innen. In einer Streitschrift warfen Sie den Ministerien die „10 Todsünden der Schulpolitik“ vor. Warum diese Schärfe?
Überspitzung gehört natürlich zu unserer Mediendemokratie dazu. Ich schließe aber nicht aus, dass ich an der ein oder anderen Stelle übers Ziel hinausgeschossen bin. Den Satz mit dem Verbrechen würde ich heute so nicht mehr formulieren. Ich habe schnell gemerkt, dass sich viele Quereinsteiger damit angegriffen gefühlt haben. Das wollte ich nicht. Ich wollte eine Politik kritisieren, die es nicht für nötig hält, fachfremde Lehrkräfte entsprechend nachzuqualifizieren. Sehr scharf bin ich auch für meine Äußerung zur Migrationsquote kritisiert worden …
… Anfang des Jahres haben Sie gefordert, Kinder mit Migrationsgeschichte besser auf alle Schulen zu verteilen, um eine „Ballung“ von Sprachdefiziten zu verhindern. Bildungsforscher:innen haben daraufhin kritisiert, dass Sie Stereotype bedienen. Entscheidend für den Schulerfolg ist die soziale Herkunft.
Das stimmt, aber bei vielen Kindern mit Zuwanderungsgeschichte kommen Sprachdefizite und fehlende Unterstützung durch das Elternhaus dazu. Studien zeigen, dass hohe Migrationsanteile und segregierte Schulen lern- und integrationshinderlich sind. Laut IQB-Bildungstrend fallen Schulleistungen bei Kindern, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, besonders stark ab. Aus meiner Sicht wäre es wichtig, diese gefährdete Gruppe ausgewogener auf Lerngruppen zu verteilen, auch wenn es schwierig ist. Da geht es um Schulsprengel, Wohnungspolitik und mehr Steuerung. Für die Politik scheint das aber ein Tabuthema zu sein.
Den Bildungsminister:innen werfen Sie regelmäßig vor, die Augen vor den Missständen zu verschließen und sich stattdessen selbst zu feiern – etwa für immer bessere Abischnitte. Würden wir heute besser dastehen, wenn die Politik sich früher ehrlich gemacht hätte?
Der Verband Der Deutsche Lehrerverband (DL) vertritt nach eigenen Angaben bundesweit rund 165.000 Lehrkräfte und damit ähnlich viele Pädagog:innen wie der Verband Bildung und Erziehung (VBE). Größer ist nur die Bildungsgewerkschaft GEW. Zu den Mitgliedern im DL gehört unter anderem der Deutsche Philologenverband e. V. (DPhV), also die Interessenvertretung der Gymnasiallehrkräfte.
Die Nachfolge Am 1. Juli übernimmt Stefan Düll das Amt des DL-Präsidenten. Am vergangenen Freitag wurde Düll vom Bundeshauptausschuss des DL einstimmig gewählt. Düll ist stellvertretender Bundesvorsitzender im Deutschen Philologenverband und leitet seit 2014 das Justus-von-Liebig-Gymnasium in Neusäß in Bayern. Heinz-Peter Meidinger trat nach zwei Amtszeiten nicht erneut zur Wahl an. (rpa)
Mit Sicherheit, wobei nicht nur die Schulpolitik schuld ist. Die Interessen der Kinder spielen an den Kabinettstischen keine große Rolle. Das gilt auch für den Bund. Vom versprochenen Digitalpakt II habe ich noch gar nichts gehört und das Startchancenprogramm kommt kaum aus den Startlöchern. Apropos Abischnitte: Der neue KMK-Beschluss zur Oberstufe ist mehr Kosmetik als Durchbruch. Ich bezweifle, dass das Abitur dadurch wirklich vergleichbarer wird.
Nach der ernüchternden IGLU-Studie zur Lesekompetenz von Grundschüler:innen hat KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU) „schnelle, wirksame und nachhaltige Lösungen“ versprochen. Wie sollten die Ihrer Meinung nach aussehen?
Das Grundproblem ist ja, dass viele Kinder an die Grundschulen kommen, ohne dem Unterricht sprachlich folgen zu können. Da anzusetzen, ist der Schlüssel. Bei der vorschulischen Förderung haben wir massiven Nachholbedarf. Nur Hamburg setzt konsequent auf Sprachstandstests bei allen Vierjährigen und – je nach Ergebnis – auf verpflichtende Sprachförderung. Daneben müssen wir uns fragen, warum andere OECD-Länder im Schnitt 200 Minuten pro Woche an Grundschulen die Muttersprache unterrichten, wir aber nur 140 Minuten. Was aber zugunsten von Deutsch wegfallen sollte, darüber schweigt die Politik.
Sie würden auf Englisch verzichten.
Richtig. Es ist ja schön, an einer Grundschule eine Fremdsprache anzubieten. Aber bei ein oder zwei Stunden in der Woche ist das für den späteren Lernerfolg irrelevant. Deswegen würde ich an Grundschulen, die Probleme mit Deutsch haben, diese Stunden besser auch für Deutsch verwenden.
Das allein wird nicht reichen, um die anhaltende Chancenungleichheit im Land zu brechen. Wie stehen Sie zu Gemeinschaftsschulen, also dem Konzept des längeren gemeinsamen Lernens?
Wenn man sich die Praxis anguckt, dann schneiden die beiden Bundesländer mit längerem gemeinsamen Lernen – Berlin und Brandenburg – bei der Chancengerechtigkeit nicht besser ab als der Rest. Ich bin kein Gegner der Gemeinschaftsschule. Warum aber müssen diese Schulen automatisch besser personell ausgestattet werden als beispielsweise Gymnasien?
Eine bessere Ausstattung hängt doch mit der sozial benachteiligten Schüler:innenschaft zusammen.
In einigen Bundesländern gelten generell für Gemeinschafts- oder Gesamtschulen geringere Klassenhöchststärken unabhängig von der Sozialquote.
Jedes Jahr verlassen knapp 50.000 Schüler:innen die Schule ohne Abschluss. Was wäre da Ihre Lösung?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich bezweifle aber, dass eine Reform der Schulstruktur hier viel bewirkt. Bremen setzt stark auf Gemeinschaftsschulen, hat aber die höchste Schulabbrecherquote in Deutschland. Eine Langzeitstudie in Hessen, die sogenannte Life-Studie, zeigt, dass Schulstrukturänderungen kaum Effekte für mehr Bildungsgerechtigkeit haben. Der Einfluss der Eltern toppt nach wie vor alles!
Also brauchen wir mehr Zeit für Beziehungsarbeit?
Ich würde die Analyse teilen, dass wir zu wenig Zeit für den einzelnen Schüler haben. Wir bräuchten eine Entlastung für Lehrkräfte, zum Beispiel über mehr multiprofessionelle Teams. Die Frage ist: Wie gut funktioniert das in Zeiten des Fachkräftemangels?
In Bayern wird im Herbst gewählt. Falls Markus Söder wieder gewinnt und Ihnen das Amt des Kultusministers anbieten würde: Würden Sie annehmen?
(lacht) Markus Söder wird mich mit Sicherheit nicht anrufen. Und wenn, holt er sich bei mir einen Korb ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?