Lehrerverbände und Corona: Berufsmäßiges Unken
Lehrerverbände vertreten die Interessen ihrer Mitglieder, das ist ihre legitime Aufgabe. Aber müssen sie deshalb aktiv auf Schulschließungen drängen?
I m ersten Coronalockdown protestierte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), als ältere Lehrkräfte in Sachsen ein ärztliches Attest über ihre „Vorerkrankung“ vorlegen sollten. Zuvor waren diese auf eigenen Wunsch ohne medizinische Prüfung von ihrer Tätigkeit freigestellt worden. Die GEW beanspruchte für sie Sonderrechte.
Bald danach wandte sich der Landesverband Nordrhein-Westfalen gegen eine Wiedereröffnung der Förderschulen: Ausgerechnet Kinder mit geistigen, körperlichen oder sozialen Handicaps sollten weiter zu Hause bleiben, mit der Begründung, sie könnten die Abstandsregeln nicht einhalten. In Schleswig-Holstein warf die Gewerkschaft kürzlich der Schulministerin vor, „nur auf Präsenz zu setzen und den Distanzunterricht zu tabuisieren“.
Thomas Gesterkamp schreibt unter anderem zu bildungspolitischen Themen. Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung recherchierte er über „Schule in Zeiten der Pandemie“, die Onlinepublikation ist abrufbar unter www.rosalux.de.
Solche Aussagen kommen von einer Organisation, deren wichtigstes Anliegen das Fördern junger Menschen sein müsste. Stattdessen betreibt die GEW seit zwei Jahren Lobbypolitik für jene, die sich (teils sehr verständlich) vor dem Unterrichten in Coronazeiten fürchten. Sie agiert nur als Vertretung der Lehrenden – und vernachlässigt die Lernenden. Priorität hat der Gesundheitsschutz der Mitglieder, Probleme von Kindern und Eltern interessieren nur am Rande. Doch im Vergleich zu ihren Mitbewerbern wirkt die GEW noch moderat.
Wenn Heinz-Peter Meidinger vor die Mikrofone tritt, weiß man schon vor dem ersten Satz, was kommt. „Mehr Schulen werden dichtmachen müssen“, prophezeite der medial dauerpräsente Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands zuletzt. Omikron habe in den Klassen „leichtes Spiel“, Normalität sei „in weite Ferne gerückt“. Der pensionierte Pädagoge, bis 2020 Direktor eines Gymnasiums im niederbayerischen Deggendorf, trägt nicht umsonst den spöttischen Spitznamen „Unke“. Düstere Prognosen verbindet er mit Appellen an Solidarität, sorgt sich aber stets um die eigene Klientel: „Wenn wir die Kontakte herunterfahren müssen, können die Schulen nicht außen vor bleiben.“ Meidinger ist der Lautsprecher einer Berufsvereinigung, die den Arbeitsplatz ihrer Mitglieder am liebsten geschlossen sieht.
Sonderweg in der Pandemie
Udo Beckmann, Chef des Verbands Bildung und Erziehung, der Lehrkräfte im Deutschen Beamtenbund organisiert, verfasst ähnliche Stellungnahmen. Die eher progressiv orientierte GEW, Einzelgewerkschaft im DGB, steckt in einem besonderen Dilemma: Verbal tritt sie für offene Schulen ein, lehnt Schließungen jedoch nicht grundsätzlich ab. Sie will legitimerweise Ansteckungen beim Lehrpersonal verhindern, doch es fehlt ihr an Sensibilität für die sozialen und psychologischen Folgen der Pandemie. Das Dichtmachen von Bildungsstätten – dazu zählen übrigens auch die Universitäten, von denen in öffentlichen Debatten selten die Rede ist – verschärft die von der Gewerkschaft angeprangerte Spaltung der Gesellschaft.
Vor allem Kinder aus armen Haushalten leiden unter zugesperrten Schulen und Digitalunterricht. Zahlreiche Forschungsergebnisse haben das inzwischen bestätigt. Nach einer Studie des Uniklinikums Essen sind die Suizidversuche Minderjähriger in der Coronakrise deutlich gestiegen. Benachteiligte werden weiter abgehängt, in geflüchteten Familien sind Rückschritte beim Lernen der deutschen Sprache erkennbar. Enge Wohnungen bieten wenig Platz, die Eltern können oft nicht helfen, es fehlen technische Voraussetzungen wie Internetanschluss oder Drucker.
Trotz Auflagen wie Maskenpflicht und regelmäßigem Testen ist die Gefahr erneuter Schulschließungen nicht gebannt. Das rigide deutsche Vorgehen unterscheidet sich von dem der Nachbarn. Frankreich etwa verfolgte stets das Ziel der „ecole ouverte“, auch als es noch keine Impfungen gab. Die Geringschätzung öffentlicher Bildung hierzulande hat Tradition; die Zahl jener Eltern, die das „Freilernen“ zu Hause propagieren und die Schulpflicht generell ablehnen, ist größer als anderswo.
In der Pandemie führte das zu einem Sonderweg, zumindest im europäischen Vergleich. Mexiko, Bangladesch oder die Philippinen erließen allerdings noch viel radikalere Maßnahmen, teilweise waren die Schulen dort mehr als ein Jahr lang dicht. Unicef schätzt, dass mindestens 200 Millionen Kinder über einen langen Zeitraum auf Unterricht verzichten mussten, es spricht von einer „schweren weltweiten Bildungskrise“. In Brasilien sind viele Kinder nicht mehr in die Klassen zurückgekehrt: Wegen der Not ihrer verarmten Familien haben sie Billigjobs angenommen, verrichten wie in der Vergangenheit Kinderarbeit.
Blick auf die Schüler:innen richten
Die deutsche GEW bezeichnet sich als „Bildungsgewerkschaft“. Das suggeriert ein Profil, das gesellschaftspolitische Ziele verfolgt und über berufsständischen Egoismus hinausweist. Die Funktionäre verfolgen sicher keine bösen Absichten, doch ihre einseitige Parteinahme für die Lehrkräfte schickt Kinder und Jugendliche ins Abseits. Zu Recht hat die Gewerkschaft die Versäumnisse der Schulbürokratie kritisiert, als die sich kaum um die Anschaffung von Luftfiltern kümmerte. Sie hat auch auf den maroden Zustand der Gebäude hingewiesen, der vielerorts dazu führt, dass sich kaputte Fenster nicht öffnen lassen.
Täglich über Stunden vor mehr als 30 Kindern in einem kleinen Raum zu stehen, birgt ein deutlich höheres Infektionsrisiko als Büroarbeit im Homeoffice. Und die Schulen schließen sich von selbst, wenn zu viele Lehrkräfte fehlen. Doch inzwischen sind über 90 Prozent von ihnen geimpft, die meisten schon geboostert. Daher sollte der Blick wieder vorrangig auf die Schülerinnen und Schüler gerichtet werden, denn sie gehören zu den Hauptleidtragenden der Pandemie.
Es irritiert, dass selbst Heinz Hilgers, der engagierte Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds, dafür plädiert, „nicht um jeden Preis am Präsenzunterricht festzuhalten“. Wie die GEW sieht er Schließungen nur als „letztes Mittel“. Dennoch zeigt sich hier exemplarisch eine geradezu missbräuchliche Umdeutung des Begriffs „Schutz“: Denn die benachteiligten Kinder und Jugendlichen werden so ihrer Zukunftschancen beraubt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste