Lehrergewerkschafterin zum Schulstart: „Über Distanzunterricht nachdenken“
Ayla Çelik ist Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. Ein Gespräch über den Schulbeginn bei steigenden Corona-Inzidenzen und sichere Schulen.
taz: Frau Çelik, in Nordrhein-Westfalen sind die Sommerferien am Dienstag zu Ende gegangen, und gleichzeitig explodieren im bevölkerungsreichsten Bundesland die Corona-Infektionszahlen. Wie ist der Start ins neue Schuljahr gelaufen?
Ayla Çelik: Die Kolleg:innen vor Ort tun alles, um trotz fehlender Mittel auch unter Pandemiebedingungen so viel Bildung wie möglich zu vermitteln. Leider hat das von FDP-Bildungsministerin Yvonne Gebauer geführte NRW-Schulministerium aber nicht alles getan, um wie von der Ministerin gefordert ‚so viel Normalität wie möglich‘ umsetzen zu können.
Was fehlt?
Vieles! Auch 17 Monate nach Beginn der Pandemie fehlen an nicht wenigen Schulen grundlegende Dinge wie funktionierende Waschbecken. Auch die Ausstattung mit Luftfiltern ist völlig unzureichend. Dabei rollt die vierte Welle der Deltavariante – und trifft auf Jugendliche, von denen nur eine Minderheit geschützt ist: Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts, des RKI, von Donnerstag sind erst 26,2 Prozent der 12- bis 17-Jährigen erstgeimpft. Die zweite Impfung haben sogar nur 15 Prozent.
Jahrgang 1968, hat Deutsch und Biologie studiert. Von 2001 bis 2012 hat sie an der Peter-Ustinov Realschule in Köln gearbeitet. Seit 2012 ist sie Gesamtschulrektorin in Köln. Seit Ende Juni 2021 ist Ayla Çelik Vorsitzende der GEW NRW.
Aktuell liegt die Inzidenz in NRW bei 99,2 – Tendenz stark steigend. Bei den 5- bis 14-Jährigen werden in großen Teilen des Landes Inzidenzen von über 200 verzeichnet. In Städten wie Leverkusen und Solingen sind es sogar mehr als 500. Können die Schulen damit ein sicherer Ort sein?
Sie sind sicherer als im vergangenen Jahr. Neben den 25 Prozent der älteren Schüler:innen, die immerhin eine erste Impfung erhalten haben, sind auch 90 Prozent der Lehrkräfte durchgeimpft. Das ist schon ein großer Schritt in Richtung Infektionsschutz. Trotzdem sind sie nicht so sicher, wie sie sein könnten.
Warum?
Nordrhein-Westfalen setzt auf Präsenzunterricht, der unabhängig von den Corona-Fallzahlen offenbar fast um jeden Preis stattfinden soll. Das lehnen wir ab. Wir brauchen klare Regeln, wie wir bei stärkerem Infektionsgeschehen in den Schulen verfahren. Beispielsweise ab welcher Inzidenz, ab welcher Belastung der Krankenhäuser, ab welcher Belegungsquote der Intensivstationen wir wieder über Distanzunterricht nachdenken müssen – wie es auch das RKI empfiehlt. Alles andere verunsichert Schüler:innen, Eltern und Lehrkräfte. Deshalb gilt vor allem: Es muss jetzt alles dafür getan werden, eine solche Situation zu vermeiden. Natürlich wollen auch wir so viel Präsenzunterricht wie möglich – aber er muss sicher sein.
Stattdessen hat das NRW-Schulministerium die Quarantäneregeln aufgeweicht.
Ja, leider. In Quarantäne müssen nur noch unmittelbare Sitznachbarn von Infizierten, also nur die Schüler:innen, die vor, hinter oder neben einem Menschen gesessen haben, der das Virus in sich trägt. Das geht natürlich völlig an der Lebensrealität in den Schulen vorbei: Kinder und Jugendliche sind nun einmal sehr agil.
Ist das fahrlässig?
Die Aufweichung der Quarantäneregeln ist fahrlässig, ja. Besonders, wenn wir alle sicheren Präsenzunterricht wollen und das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt stellen.
Was fordern Sie stattdessen?
Sicherer wäre, per genauem PCR-Test zu überprüfen, ob es noch weitere Infizierte gibt – auch wenn das bedeutet, dass währenddessen die gesamte Klasse, der gesamte Kurs drei bis vier Tage in Quarantäne muss und sich dann schnell wieder für den Präsenzunterricht freitestet.
Ministerin Gebauer setzt dagegen auf eine schnelle Immunisierung zumindest der 12- bis 17-Jährigen, die jetzt auch von der Ständigen Impfkommission, der STIKO, empfohlen wird – etwa durch mobile Impfstationen direkt vor den Schulen. Ist das keine Alternative?
Natürlich ist es richtig, gerade Jugendlichen möglichst viele möglichst unkomplizierte Impfangebote zu machen. Die Frage ist aber, wie schnell das flächendeckend möglich ist. Noch einmal: Aktuell sind gerade einmal 15 Prozent von ihnen flächendeckend geschützt. Dazu kommt: Kinder unter 12 Jahren werden Stand heute nicht geimpft.
Was bedeutet das?
Besonders für ungeimpfte Kinder bleibt die Deltavariante gefährlich. Schon heute gibt es etwa in Gütersloh eine Grundschule, in der es in fünf von sieben Klassen Infizierte gab, schon heute berichtet das RKI, manche Gesundheitsämter seien nicht mehr in der Lage, alle Infektionswege zurückzuverfolgen. Wir plädieren deshalb für mehr Vorsicht – und fordern klare Leitlinien und Konzepte des NRW-Schulministeriums: Es muss klar sein, was in welcher Situation, bei welchen Inzidenzen, bei welcher Belastung der Krankenhäuser passiert. Aktuell fehlt den Schulen in dieser Hinsicht jede Planbarkeit. Und natürlich müssen schnell wirkende Sofortmaßnahmen wie Luftfilter flächendeckend eingesetzt werden.
Kritiker halten dagegen, auch Luftfilter böten keine absolute Sicherheit – und setzen weiter auf viel Lüften der Klassenräume. Außerdem sind Luftfilter teuer: Trotz Unterstützung von Bund und Land können sie Städte hunderttausende Euro kosten.
Luftfilter können die Aerosolbelastung um bis zu 90 Prozent reduzieren – und natürlich soll weiter gelüftet werden. Zur Finanzierung: Geld darf keine Rolle spielen, wenn es um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen geht. Trotzdem ist der Bildungsbereich im größten Bundesland NRW seit Jahren chronisch unterfinanziert.
Inwiefern?
Pro Bildungsteilnehmer:in gibt NRW pro Jahr nur 9.000 Euro aus – in Hamburg sind es fast 12.000, in Bayern und Berlin mehr als 11.000 Euro. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 10.000 Euro. Zusammen mit Schleswig-Holstein ist Nordrhein-Westfalen damit bei den Bildungsausgaben bundesweites Schlusslicht. Die Folgen sind dramatisch: In NRW fehlen rund 4.000 Lehrkräfte – davon rund 1.450 an den Grundschulen. Ein Grund hierfür: Lehrer:innen an den Grundschulen werden verfassungswidrig und schlechter bezahlt. Ihr Versprechen, dies zu ändern, hat die Landesregierung noch nicht eingelöst. Dies gilt im Übrigen auch für viele Lehrer:innen an Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen.
Immerhin gab es den vom Bund mit Milliarden unterstützten Digitalpakt.
Trotzdem bleibt die IT-Ausstattung oft nicht ausreichend: Noch immer haben viele Schulen kein WLAN – und noch längst verfügen nicht alle Schüler:innen über einen Laptop. Auch deren Wartung durch bezahlte Systemadmistrator:innen ist zu selten gewährleistet. Stattdessen wird oft immer noch mit Overheadprojektor unterrichtet. Gerade unter Pandemiebedingungen wird so die Chancenungleichheit noch einmal verschärft: Wer aus einer finanzstarken Familie kommt, ist oft einfach besser ausgestattet.
Wieviel Geld fehlt denn?
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau rechnet allein bei den Schulgebäuden bundesweit mit einem Sanierungsstau von 46,54 Milliarden Euro. Allein in NRW sind das 10 Milliarden – und das sehen unsere Kolleg:innen jeden Tag: In Schulen, in denen der Putz von der Decke rieselt, kann ich einfach keinen vernünftigen Unterricht anbieten. Außerdem fehlt Geld für die Entlastung der Lehrkräfte, etwa durch Assistenzen für die Schulleiter:innen oder mehr Schulsozialarbeit.
Aber ist es nicht unrealistisch, auf zusätzliche Milliarden zu hoffen?
Sehen Sie: Allein in NRW gibt es 2,5 Millionen Schüler:innen. Würde für die so viel Geld ausgegeben wie im Bundesdurchschnitt, also 1.000 Euro mehr, wären das 2,5 Milliarden – pro Jahr. Ein Ende der chronischen Unterfinanzierung ist also nicht nur möglich, sondern längst überfällig. Alles andere verringert die Bildungs- und damit die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen, gerade aus finanziell schwächeren Familien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid