Lech Wałęsa zu Protesten in Belarus: „Die Opposition hat keine Struktur“
Der Anführer der polnischen Friedens- und Gewerkschaftsbewegung Solidarność von 1980 über Populismus, Putin und Protest.
taz am wochenende: Herr Wałęsa, wenn Sie die aktuellen Proteste in Belarus mit denen in Polen vor 40 Jahren vergleichen, sehen Sie Unterschiede oder eher Ähnlichkeiten?
Lech Wałęsa: Belarus ist zurzeit noch dort, wo wir in den 1970er Jahren waren. Damals haben wir den großen Streik in der Danziger Werft verloren, weil uns nicht klar war, was wir eigentlich wollten. Die Erfahrung lehrte uns, dass wir uns auf die Revolution sehr gut vorbereiten mussten. Wir brauchten vertrauenswürdige Fachleute an wichtigen Schaltstellen im Staat, ein realistisches Programm und Durchhaltevermögen. Die Oppositionsbewegung in Belarus agiert zurzeit sehr spontan, ohne eine schlagkräftige Struktur und ohne ein zumindest mittelfristiges Programm.
Denken Sie bei der Struktur an eine freie Gewerkschaft – so wie die Solidarność 1980?
Nicht unbedingt. Die Situation in Belarus ist eine andere als bei uns damals. Dort wurden die Wahlen so dreist gefälscht, dass „die Straße“ protestiert und Freiheit und Demokratie fordert. Bei uns fing alles mit Streiks gegen die schlechten Arbeitsbedingungen an. Eine Gewerkschaft als Struktur der Opposition bot sich also an. Die Belarussen müssen eine eigene Struktur finden.
Hat Belarus überhaupt eine Chance, sich aus den Armen Russlands zu befreien?
Ich bin ein Praktiker, Politiker und Revolutionär, kein Theoretiker. Es ist doch so: Russland wird sich irgendwann mit dem Rest Europas arrangieren müssen. Die Zeit der Nationalstaaterei und der Kriege ist vorbei. Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen als noch vor einem Jahrhundert. Die globalen Probleme löst kein Staat mehr allein.
Vor 40 Jahren wurde in Danzig die Freiheits- und Gewerkschaftsbewegung Solidarność gegründet. Es war die erste unabhängige Gewerkschaft im damaligen Ostblock. An ihrer Spitze stand damals der Elektriker Lech Wałęsa. Sein Arbeitsplatz war die Leninwerft in Danzig.
Nach einem Rückschlag im Dezember 1981, als General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht ausrief, Tausende Oppositionelle verhaften ließ und die Solidarność verbot, schaffte es Polen im Wendejahr 1989, als erstes Ostblockland freie Wahlen abzuhalten. Monate später fiel dann auch die Mauer in Berlin.
Von 1990 bis 1995 war Lech Wałęsa Staatspräsident Polens. Wałęsa ist heute 77 Jahre alt.
Die Ukraine, die ihren Freiheitskampf mehr oder weniger in der gleichen Zeit begann wie Polen, ist heute weder in der EU noch in der Nato. Hat sie ihre historische Chance verpasst?
Als ich Präsident Polens war, verfolgte ich die Konzeption eines gemeinsamen Beitritts zu Nato und EU – also erst Polen und die anderen mitteleuropäischen Staaten, dann die baltischen Republiken und schließlich die Ukraine und auch Belarus. Doch dann verlor ich die Wahlen und hatte keine zweite Amtszeit mehr. Damals zerfiel die Sowjetunion. Es hätte also klappen können. Ich hatte bereits alles in die Wege geleitet, ohne dies aber an die große Glocke zu hängen. Die Ukraine hat nicht ihre historische Chance verpasst, sondern geht einen anderen Weg. Wenn die EU der Ukraine und Belarus Strom, Gas und Öl liefern könnte, wären die beiden Länder weniger abhängig von Russland und hätten einen größeren Handlungsspielraum. Aber dazu ist die EU derzeit nicht in der Lage.
Aber es ist Ihnen noch gelungen, den Abzug der sowjetischen Soldaten aus Polen zu verhandeln. Wie kam es dazu?
Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.
Vergessen Sie nicht die Berliner Mauer! Die wäre ohne unsere Vorarbeit nicht gefallen. Die Sowjetunion war damals sehr schwach und konnte mit den kapitalistischen Ländern nicht mehr konkurrieren. Zugleich hatten bereits viele kluge Köpfe – polnische, russische, litauische – an Eliteuniversitäten in den USA und auch in Westeuropa studiert. Sie erkannten, dass das kommunistische Wirtschaftssystem nirgends funktionierte, und so waren auch die sowjetischen Politiker nicht mehr bereit, das bisherige System zu verteidigen. So erreichte ich in Verhandlungen, dass die Sowjetsoldaten vollkommen friedlich aus Polen abzogen.
Und heute? Haben Sie einen Ratschlag für die Oppositionellen in Belarus?
Von außen einen Rat zu geben ist sehr schwer. Man muss vor Ort sein, die Situation mit Herz und Hirn erfassen, mal vor preschen, mal zurückweichen und immer im Dialog mit der anderen Seite bleiben. Ich werde mich hüten, einen konkreten Rat zu geben. Aber etwas gegen Russland zu unternehmen empfiehlt sich zurzeit wohl nicht. Das würde Putin nicht zulassen. Kleinere politische Projekte hingegen könnte die Opposition problemlos auf den Weg bringen und dabei wertvolle Erfahrungen sammeln.
Mit oder ohne die Europäische Union?
Die EU ist heute sehr schwach. Es gibt zu viele antagonistische Kräfte innerhalb der EU. Es wäre gut, wenn die Deutschen, Franzosen und Italiener entweder die EU von innen reformierten oder aber – nachdem sie zuvor von Großbritannien, Polen, Ungarn und Konsorten zerstört wurde – von Neuem gründeten. Wie zuvor sollte jeder beitreten können, also auch diejenigen Staaten, die vorher unbedingt raus wollten. Allerdings müssten sie einen ganz klaren Rechte-und-Pflichten-Katalog unterschreiben, dessen Einhaltung dann auch streng kontrolliert werden sollte. Die Farce rund um die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn und deren Ahndung durch die EU ist doch einfach nur peinlich. Die Deutschen sollten endlich zu ihrer Verantwortung stehen und aus dem politischen Zwerg EU einen Riesen machen, der in der Weltpolitik ein Wort mitzureden hat. In ihrer jetzigen Verfassung kann die EU weder Belarus noch der Ukraine helfen, fürchte ich.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Sie fordern eine Führungsrolle für Deutschland in der EU trotz des Zweiten Weltkriegs?
Wir sind in einer anderen Epoche heute, führen keine Kriege mehr, sondern sind Partner, die Vertrauen zueinander haben. Wissen Sie, ich habe auch meinen Vater im Krieg verloren, war als junger Mann voller Zorn gegenüber den Deutschen, bis mir klar wurde, dass die Zeiten sich geändert haben. Wir Polen haben einen hohen Preis bezahlt, müssen aber in die Zukunft schauen. Globale Probleme lösen wir nicht alleine. Kein Staat tut das. Wir brauchen also eine starke EU. Die Deutschen sollten sich endlich an die Arbeit machen.
Sie tragen seit ein, zwei Jahren in der Öffentlichkeit ein T-Shirt mit der Aufschrift „Verfassung“! Steht es so schlecht um Polens Rechtssystem?
Nicht nur in Polen, sondern weltweit fallen immer mehr Menschen auf Populisten herein. Sogar in den USA. Das Problem ist: Die Analysen der Populisten sind oft richtig, aber ihre Lösungen sind fatal. Statt es besser zu machen als ihre Vorgänger, zerstören sie das bisherige Rechtssystem und die Demokratie. Als ich Präsident war, haben mich die Urteile mancher Richter auch sehr geärgert, aber anders als die derzeit regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) habe ich nie versucht, Polens Gerichte zu zerstören. Ohne Respekt vor der Verfassung, der Dreiteilung der Macht und der freien Presse degeneriert so jedes populistisch regierte Land zur Diktatur. In Polen und überall.
Die aktuell regierende PiS versucht, Sie aus der Geschichte Polens zu eliminieren und Sie entweder totzuschweigen oder sogar durch eine andere Person zu ersetzen. Schmerzt Sie das?
Ach, nein. Das zeigt doch nur, dass ich meinen Platz in der Geschichte habe. Ich empfinde diesen zum Teil hysterischen Kampf gegen mich als eine Art Wertschätzung. Sie können es nicht aushalten, dass ich als einfacher Elektriker etwas geschafft habe, während sie als studierte Leute Statisten geblieben sind. Da hängen sie mir an, ein kommunistischer Agent gewesen zu sein. Haha, was ein Witz!
Wie sieht Ihre Bilanz aus – 40 Jahre nach der Solidarność -Registrierung! Worüber freuen sie sich bis heute?
In der Solidarność-Revolution ging es nicht um mich, sondern um die Freiheit und Souveränität Polens, auch um die Wiedervereinigung Deutschlands. Das ist mir gelungen. Und das freut mich sehr.
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