Leben im digitalen China: Die Überwindung der großen Mauer
Wie das Internet China verändert: Der chinesische Blogger Michael Anti über Mut und Meinungsfreiheit im Reich der Mitte - und seinen inhaftierten Freund Liu Xiaobo.
TOKIO taz | Eine Sekunde nachdem Thorbjørn Jagland den Namen Liu Xiaobo auf Norwegisch verlas, twitterte ich auf Chinesisch und Englisch: "Oh mein Gott, der chinesische Dissident Liu Xiaobo gewinnt den Friedensnobelpreis." Dann brach ich in Tränen aus. Ich saß in meinem Studentenwohnheim der Universität Tokio. Ich weinte mindestens fünf Minuten ohne Kontrolle. Auf dem Bildschirm hatte sich in diesen fünf Minuten meine Twitter-Timeline gefüllt mit Freude und Tränen chinesischer Twitterer.
Als Gastforscher in Japan konnte ich nicht mit Freunden in Peking ausgehen und feiern. Aber ich konnte ihr Feuerwerk förmlich hören und sie sehen, betrunken und weinend. Am Abend rief ich meine Frau an, die für einen nationalen Fernsehsender arbeitet, und fragte sie nur: "Hast du die Nachricht gehört?" "Natürlich!", antwortete sie schnell und freudig erregt.
Liu Xiaobo ist unser Freund, und er war der Gastgeber unserer Hochzeit 2007, über ein Jahr bevor er festgenommen wurde, aber wir haben es uns angewöhnt, ihn und seine Arbeit nicht am Telefon zu erwähnen. Aus Sicherheitsgründen.
Der prominente chinesische Künstler Ai Weiwei ist am Freitag unter Hausarrest gestellt worden. Hintergrund ist sein Vorhaben, am Wochenende in Schanghai wegen der zwangsweisen Schließung seines Studios ein Fest zu veranstalten, zu dem hunderte Gäste kommen wollten.
Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an den inhaftierten chinesischen Bürgerrechtler Liu Xiaobo vor vier Wochen wurden rund 100 Dissidenten und Intellektuelle unter Hausarrest gestellt, teilte das Netzwerk Chinesischer Menschenrechtsverteidiger (CHRD) mit. Der 54-jährige Schriftsteller Liu war im Dezember 2009 unter anderem wegen seiner Mitarbeit an dem Aufruf zu elf Jahren Haft verurteilt worden.
CHRD veröffentlichte eine Liste von Aktivisten und Dissidenten, die inhaftiert, deportiert oder sogar entführt worden seien. Darunter sind Lius Frau Xia, der Internet-Dissident Liu Di und der Schriftsteller Yu Jie, der vergangenes Jahr ein umstrittenes Buch über Chinas Ministerpräsidenten Wen Jiabao veröffentlicht hatte. Auch Ding Zilin, die 74-jährige Anführerin der Mütter von Tiananmen, welche die Opfer der blutigen Niederschlagung der Demokratie-Proteste 1989 vertreten, stehe unter Hausarrest. (dpa, afp)
Unsere Generation hat nur wenig über Freiheit und Demokratie gelernt in der Schule, aber ich erinnere mich an einen Satz aus meinem Englischbuch von Martin Luther King: "Endlich frei, endlich frei, danke Gott Allmächtiger, wir sind endlich frei".
Obwohl das Internet in China immer zensiert war, umgehen viele Netizens ("Netzbewohner") wie ich die Great Firewall mit Virtual Private Network (VPN), einer Schnittstelle, die Teilnehmer aus einem Netz herausnimmt und an ein anderes anbindet. Wir schufen uns einen unzensierten virtuellen Raum und praktizierten online unsere eigene virtuelle Redefreiheit. Wir twitterten, bloggten, kritisierten und rissen Witze über die Regierung - fast wie normale, westliche Netizens. Aber im wirklichen Leben wusste jeder, der nicht Dissident werden wollte, wie die politische Grenze nicht überschritten wird.
Liu Xiaobo hat diese Grenze überschritten und schützte uns vor Verhaftung mit seinem eigenen Leid. In den vergangenen 21 Jahren seit 1989 haben Helden immer gelitten, und wir normalen Leute haben immer ein etwas ängstliches Doppelleben geführt.
In der Nacht zum 8. Oktober erreichte uns eine wirklich gute Nachricht über einen Helden aus diesem mittelalterlichen Land. Gerechtigkeit ist noch wach, sagt der Preis, nicht nur online, sondern auch im wirklichen Leben.
Die ersten Internetcafés
Ich bin nicht immer ein Unterstützer von Liu gewesen. Im Mai 1989 habe ich Studenten und Liu, die auf dem Tiananmen-Platz dabei waren, in meinem Tagebuch angeklagt. Für mich waren Menschen wie Liu Verräter unseres Vaterlandes und es war die Armee, die uns vor einem landesweiten Aufruhr bewahrte. Ich war 14 und ein aktives Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands. Und um das noch schlimmer zu machen, war ich außerdem ein großer Japan-Gegner und Nationalist.
1998 erschienen die ersten Internetcafés in Wuxi, einer Kleinstadt zwischen Schanghai und Nanjing, wo ich als Computerprogrammierer arbeitete. Das Internet war ein wahres Wunderland für mich - alle Informationen waren verfügbar, nur durch Klicken und Suchen. Mein chinesischer Name ist Jing, was "leise sein" bedeutet. Das war das, was ich am wenigsten sein wollte. Ich änderte meinen Namen zu Anti, ich wollte ein Freiheitskämpfer sein wie William Wallace, eine von Mel Gibson gespielte Rolle in dem Film "Braveheart" von 1995.
Das Internet führte mich zu ungeöffneten Archiven nationaler Tragödien. Nachdem ich Memoiren und mündliche Erzählungen von Liu und seinen Freunden über Tiananmen gelesen hatte, erkannte ich, dass ich vollkommen falsch gelegen hatte. Also wurde ich ein Anti, ein Protestierer gegen das Establishment. Ich errichtete Plattformen zur Rede-, Presse- und Religionsfreiheit. Ein Programmierer wurde zu einem Kritiker im Netz. Bekannt zu sein half auch meiner Karriere. Ich wurde eingeladen, in eine Metropole, Guangzhou, zu ziehen, um dort als Technischer Direktor einer Gesundheitswebseite zu arbeiten. Später ging ich in die Hauptstadt Peking, als Produktmanager eines Webseiten-Unternehmens.
Aber meine neue Internetidentität hatte mich so sehr verändert, dass ich mich schließlich dem Journalismus zu wandte. Ich wurde angestellt von einer Pekinger Tageszeitung, Huaxia Times, als Chefkommentator. Mein Chef war ein Freund Liu Xiaobos und er kannte mich aus dem Internet. Er war mein Lehrer und hat mich von einem Netizen zum Journalisten gemacht. Netizens erzählen Geschichten von sich selbst, Journalisten erzählen Geschichten von anderen.
Ein neuer Traum
Ich war nicht der einzige Glückspilz, der von einem Niemand zu einer respektierten Persönlichkeit in den chinesischen Medien wurde. In den Jahren um 2000 sind viele Medienunternehmen expandiert - Fernsehsender, Magazine und Zeitungen - und wurden zu sogenannten Mediengruppen. Sie waren auf der Suche nach jungen Journalisten. Journalistenschulen boomten, im Jahr 2000 waren es 1.000 in China. Aber die alten Lehrbücher brachten den Studenten nichts bei über Politik, Wirtschaft, Kommentare oder gar objektive Berichterstattung. Sie waren darauf ausgerichtet, Propagandisten zu formen.
Für die wachsenden Medien waren die Netizens eine bessere Nachwuchsquelle. Ihre Arbeit online überzeugte ihre zukünftigen Arbeitgeber, dass sie gute Reporter und Kommentatoren sein würden. Tausende von Internet-Identitäten tauchten in den Autorenzeilen auf. Diskussionen, die bisher nur auf Internetplattformen stattgefunden hatten, wurden zu Medienthemen. Seit dem Beginn dieses Trends wurden die chinesischen Medien "internetisiert" und das Netz wurde zum freien Zweig der traditionellen Medien, nicht ihr Gegner, wie in den USA und Europa.
Ich wurde zum Korrespondent in Peking, Kriegsreporter in Bagdad und schließlich Rechercheur des Pekinger Büros der New York Times.
Als Liu im Oktober 1999 zum zweiten Mal aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte er noch nicht viel verpasst vom Beginn der Internet-Ära. Dissidenten wie er hatten nur eine Möglichkeiten, die einfachen Menschen zu erreichen. Es war die Great Firewall, die nicht von der Technik umgangen werden konnte. Liu Xia, seine Frau, sagte einmal zu uns, das Internet habe ihm eine neue Welt gegeben. Er schrieb weiter und wir Leser hatten die Chance zu verstehen, dass er ein netter Liberaler wie wir war, kein mysteriöser Verschwörer, wie die Regierung uns hatte glauben machen wollen. Immer mehr junge Menschen wie ich kamen ihm und seiner Sache näher.
Das twitternde China
Jetzt bin ich ein professioneller Kolumnist und Journalist, aber ich nenne mich lieber Blogger. Meinen persönlichen Blog begann ich Ende 2004 bei der New York Times. Deren Unternehmen erlaubte mir, nur auf Chinesisch zu bloggen, um Interessenkonflikte mit der Zeitung zu vermeiden. Mein kolumnenartiger Blog auf Microsoft MSN wurde bald zum bekanntesten politischen Blog in China. Ich hatte gedacht, amerikanische Blogs wären ein Freiraum der chinesischen Zensur, in dem ich sagen konnte, was ich wollte. Aber das entpuppte sich als Mythos - mein Blog wurde im Dezember 2005 auf Druck der chinesischen Regierung gelöscht.
Seit dem Frühjahr 2009 geben Twitter, Klone von Twitter und Weibo, ein chinesischer selbst zensierter Blogservice, der chinesischen Gesellschaft frischen Wind. Die Regierung blockierte Twitter im Juli 2009, aber über VPN, Proxies oder Anwendungen von Drittanbietern haben die Menschen weiterhin Zugriff auf die Plattform. Twitter war die erste nationale Plattform mit 100 Prozent Redefreiheit, seit Konfuzius eine sich selbst zensierende Schreibmethode erfand, um die brutale historische Wahrheit festzuhalten und nicht selbst umgebracht zu werden. Netizens begannen Twitter und andere Internetdienste zu nutzen, um eine robuste Zivilgesellschaft aufzubauen.
Die Menschen haben Hoffnung geschöpft und wieder verloren in dem Katz-und-Maus-Spiel gegen die Internetzensur. Einige der Journalisten, die als Netizens begannen, wechseln jetzt zur Regierungsseite und klagen Liu Xiaobo und Norwegen öffentlich an. Aber viel mehr junge Studenten folgen den Schritten von Liu und seinen Anhängern, twittern und bloggen ihre Worte ohne Angst, gelöscht zu werden.
Nur mit Twittern und dem Friedensnobelpreis kann China keine Demokratie werden, aber, das ist offensichtlich, mutig zu twittern, dass Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis bekommen hat, ist einer der ersten Schritte dieser langen Prozesses.
Michael Anti wurde 1975 in Nanjing geboren. Er arbeitete u. a. für die "New York Times" und die "Washington Post" in Peking. Derzeit ist er Gastprofessor an der Universität Tokio.
Übersetzung aus dem Englischen von Frauke Böger
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