Lauschen ist menschlich: Das Ohr zur Welt

Wir alle lauschen in die Welt hinein. Das gehört zum Leben dazu, auch wenn wir dadurch Dinge erfahren, die nicht für uns bestimmt sind.

Eine Blume steckt im Ohr der Statue "Die Kugelspielerin" in einem Park in Düsseldorf.

Wegsehen geht, weghören nicht: Blume im Ohr der Statue „Die Kugelspielerin“ in Düsseldorf Foto: dpa | Klaus-Dietmar Gabbert

Neulich im Café. Eine Freundin und ich haben uns seit Langem nicht mehr gesehen. Wir teilen, was uns die letzten Monate beschäftigt hat. Worte für uns, die sonst für keinen bestimmt sind.

Ein junger Mann sitzt etwa einen Meter entfernt allein an einem Tisch und liest in einem Buch. Wir sehen seinen Hinterkopf und seine Ohren: groß und rot. Sie sehen aus, als würden sie nach hinten hören. Von Zeit zu Zeit dreht sich der Mann zu uns um, als wollte er abgleichen, wie die Person aussieht, die gerade gesprochen hat. Es wirkt, als würde ein einziges, riesiges Ohr vor uns sitzen.

Während wir sprechen, sehen wir beide mehrmals zu ihm: „Er lauscht“, sagen wir zueinander. Es ist uns etwas unbehaglich zumute. „Die Menschen in Deutschland lauschen“, sagt die Freundin. Ein Bekannter von ihr hätte das gemeint: „Das hätte noch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, dass die Menschen mit vier Ohren hören und aufpassen würden. In anderen Ländern sei das nicht so.“

Meine Freundin war gerade in Indien. Sie erzählt, dass sie dort ständig von verschiedensten Menschen angesprochen worden war. Die Cafés seien dort nicht so still, dass dort einzelne Stimmen im Raum erkennbar seien.

Zuhause denke ich noch über das Ohr des Mannes nach. Ich denke darüber nach, was ich gesagt habe. Dann wird mir bewusst, dass ich der Welt auch schon etwas abgerungen habe. Dass ich auch in sie hineinlausche. Nicht absichtlich und spionierend. Aber auch ich schnappe auf, was um mich herum gesprochen wird, und manchmal behalte ich diese Stimmen in Erinnerung.

Lauschen kann auch etwas zärtliches sein: Ich lausche dem Flüstern des Winds

Vor Kurzem im Café war ich die Frau, die einen Meter entfernt saß. Vor mir saß eine Freundinnengruppe, eine von ihnen erzählte von ihrer Fehlgeburt und die anderen hörten zu. Ich hätte mich wegsetzen müssen, um ihre Worte nicht zu hören. Es ging gar nicht anders. Wir Menschen können nicht aktiv weghören, so wie wir wegsehen können. Denn die Ohren können wir nicht verschließen, so wie wir mit unseren Lidern die Augen bedecken können.

Die Frau im Café senkte nicht ihre Stimme, als sie von sich erzählte. Ich bemühte mich, nicht hinzuhören, doch noch später blieben mir die Antworten ihrer Freundinnen im Gedächtnis. Ich fragte mich, welche Gefühle in ihren Reaktionen mitgeschwungen hatten. Ich überlegte, wie das wohl für die Frau im Nachhinein gewesen sein muss, dieses persönliche Erlebnis im Café zu erzählen. Und ich überlegte, ob sie mich wohl auch bemerkt hatte.

Aber lauschen wir nicht alle? Nicht in einem spionierenden Sinne. Doch ringen wir nicht immer der Welt etwas ab? Wir hören unweigerlich zu: den Stimmen, der Sprache, der Musik der anderen, dem Rauschen der Gesellschaft, allem, was um uns herum ist. Durch dieses In-die-Welt-Lauschen entstehen Moderichtungen, soziale Strömungen, ein gesellschaftliches Wir und jedes einzelne Ich. Ja, sobald wir vor die Tür gehen, beginnen wir unweigerlich zu lauschen.

Interessant ist auch, dass es keinen Begriff für das Zuhören im ähnlich negativ konnotierten Sinne wie für das Gaffen, das voyeuristische Zuschauen gibt. Denn Lauschen kann auch etwas Positives, Zärtliches sein. Ich lausche dem Flüstern des Windes. Ich lausche dem Rauschen der Blätter. Ich lausche der zärtlichen Stimme eines vorlesenden Menschen.

Ein äquivalenter Begriff für das Gaffen wäre vielleicht das „Ab-hören“. Es ist das Gegenteil von Zuhören. Denn das Zu-hören gibt der erzählenden Person etwas, es gibt ihr Raum. Während das Ab-hören nur etwas aus dem Raum der anderen klaut.

Aber vielleicht ist es auch gleichgültig, ob andere ab-hören oder belauschen. Das Eigentliche bleibt ja doch für uns allein. Die anderen können es uns nicht weghören. Vielleicht ist es wie beim „kleinen Prinzen“. Man hört nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Ohren unhörbar.

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Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.

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