Laubbläser, Sahra Wagenknecht und Handys: Mach's gut, lieber Roter Faden
Im Namen des Fortschritts gab es schon viele Fehler: Laubbläser oder eine Digitalisierung, bei der alte Menschen vergessen werden. Eine Abschiedskolumne.
D as mit dem Fortschritt ist so eine Sache. Wenn’s gut läuft, ist jeder froh, dass jemand mal was Neues erfunden hat und alte Zöpfe abschneidet. Wenn Fortschritt aber in Wirklichkeit eine Verschlechterung bedeutet, sieht es schon anders aus: Laubbläser etwa sind eindeutig ein Rückschritt. Wenn ich trotz des infernalischen Lärms im Angesicht eines laubblasenden Mannes (es sind immer Männer) mal klar denken kann, frage ich mich, warum ein Laubbläser eigentlich bläst und nicht saugt, also das Laub nur ein bisschen weiter wegbläst und nicht einsaugt. Ich bin mir sicher: Bald wird es elektrische, saugende und vor allem leise Laubroboter geben, mit so einem Laubbehälter obendran. Den Zwischenschritt mit dem Laubbläser hätte man sich sparen können.
Auf dem Weg zur Arbeit komme ich immer am Ort des ehemaligen Berliner Anhalter Bahnhofs vorbei. Der Bahnhof war vor dem Zweiten Weltkrieg einer der schönsten und wichtigsten Kopfbahnhöfe Europas; hier gingen Fernzüge nach Rom und sogar Athen ab. Er wurde im Krieg zwar stark beschädigt, blieb aber bis auf das Dach intakt.
Ende der 50er Jahre ließ der Berliner Senat im Namen des Fortschritts das schöne große Gebäude abreißen – brauchen wir nicht mehr, kann weg. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran, wie die Band „Fehlfarben“ vor über 40 Jahren sang oder besser schrie. Heute befinden sich in der Einöde Sportplätze aus Kunststoffbelag und eine hässliche Konzerthalle. Nur noch ein kleiner Teil des Portals steht dort, wie als stilles Mahnmal.
Manchmal halte ich kurz an und stelle mir den Bahnhof in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor: Männer in schicken Anzügen und Frauen mit schönen Hüten eilen in den Bahnhof, Autodroschken tröten ihre Hupe, der Zeitungsverkäufer ruft die Schlagzeile des Tages (ja, ich weiß, in „Weimar“ lief vieles nicht gut, aber die Leute hatten wenigstens Style. Ich fand im Nachlass meiner Oma Fotos von ihr mit coolem Kurzhaarschnitt in ihrer Abiturklasse – dass Frauen aus Kleine-Leute-Familien damals erstmals Abitur machen konnten, war eindeutig ein Fortschritt). Was hätte man mit dem Bahnhofsgebäude nach dem Krieg alles anstellen können: einen Kulturbahnhof samt Markthalle oder so. Zu spät, jetzt ist er weg, der Bahnhof.
Besonders schlimm ist das Fortschritts-Mantra bei der, ich kann das Wort nicht mehr hören, Digitalisierung. Banken dünnen auf dem Land Filialen immer weiter aus, weil man seine Bankgeschäfte jetzt mit dem Handy erledigen soll. Und die Älteren, die damit nicht klarkommen? Soll doch der Enkel helfen. Firmen schaffen den telefonischen Kundenservice ab, jetzt muss man mit einem Chatbot kommunizieren, also mit künstlicher Intelligenz.
Kalte Maschine
Dabei geht viel verloren: Ein Chatbot kennt keine Empathie, keine Kompromissfähigkeit, kein Entgegenkommen – keine menschliche Intelligenz. Hinter der säuselnden Stimme steht die Kälte der Maschine. Das BSW von Sahra Wagenknecht fordert, dass Tablets und Handys aus dem Unterricht der unteren Schulklassen verbannt werden sollen. Darüber kann man sich leichthin lustig machen – wie altmodisch! -, aber die Partei hat damit mit feinem Gespür ein leises, aber verbreitetes Unbehagen in der Gesellschaft aufgenommen: Wie viel Digitalisierung wollen wir eigentlich? Bedeutet jede Automatisierung Fortschritt? Wollen wir uns so sehr abhängig von unserem Handy machen lassen? Warum ist das Einrichten eines neuen Fernsehers inzwischen so kompliziert wie das Hochfahren eines Airbus A380?
Ich fürchte, dieses Unbehagen wird das BSW noch größer machen. Oder falls sich die Partei selbst zerlegt, bin ich mir sicher, dass es bald eine Anti-Digital-Partei mit Erfolgschancen geben wird. Die etablierten Parteien sind zu sehr in der Routine gefangen und auf Autopilot eingestellt, als dass sie mal Grundsatzfragen stellen könnten.
Im Namen der Weiterentwicklung der taz wird dies der letzte „Rote Faden“ sein, die Wochenendkolumne, die viele Jahre für Sie die Ereignisse der Woche launig oder ernst miteinander verknüpft hat. Eine neue Kolumne wird es ab nächster Woche geben. Ob das ein Fortschritt ist? Lassen wir uns überraschen.
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