Latschenölbrennerei in den Alpen: Eine Hausapotheke aus dem Wald
Hoch in den Südtiroler Bergen steht Meinrad Rabensteiners Latschenölbrennerei. Besuchen kann sie nur, wer zu ihr wandert. Es ist auch eine Zeitreise.
Ein Schnaps zum Ende muss sein. Zirbe – von Meinrad Rabensteiner selbst angesetzt. „Sonst sind die Gäste enttäuscht.“
Rabensteiner betreibt eine Latschenölbrennerei auf knapp 1.900 Metern über dem Meeresspiegel, in den Südtiroler Alpen. „Viele denken, dass es hier Schnaps gibt. Und dann gibt’s nur Öl.“ Denn auch das wird gebrannt, aus Latschenkiefern, einer Unterart der Bergkiefern. Die wachsen überall hier oben. Wilde, flache Sträucher, der Stamm am Boden liegend. Als würden sie sich ducken, um dem kräftigen Wind und den Schneemassen des Winters standzuhalten.
Das Latschenöl, das Meinrad Rabensteiner aus ihnen gewinnt, durfte früher in keiner Hausapotheke fehlen. Es hilft bei Erkältung, Rheuma, kalten Füßen, Kopf- und Gliederschmerzen und erlebt heute – wo viele zurück zur Natur wollen – ein Comeback.
Rabensteiner steht in der dunklen Stube im hinteren Teil der Alm. Durch die kleinen Fenster, eingerahmt von herzverzierten Karo-Vorhängen, fällt nur wenig Licht. „Hier stand früher ein Bett und da im Eck ein zweites.“ Es ist der alte Schlaf- und Essraum, in dem seine Familie während der Sommermonate lebte, als er noch ein Kind war. „Direkt neben der Brennerei. Hier war es schön warm.“ Die Wände sind schwarz vom Ruß. Neben diesem Raum gab es ein Schlafzimmer für die Eltern und eine Milchkammer, in der Butter und Käse gemacht wurde.
In dritter Generation
Meinrad Rabensteiners Großonkel hat die Brennerei 1912 aufgebaut. Nach dessen Tod im Ersten Weltkrieg übernahmen die Großeltern den Betrieb, anschließend die Eltern, die alljährlich ab Juni mit ihren Kindern zum Brennen auf die Alm zogen. „Später, als wir in die Schule mussten, kamen wir im Sommer zur Tante. Aber sobald Ferien waren, sind wir auch hoch“, erinnert sich Rabensteiner. „Nur einmal pro Woche ist der Vater mit dem Traktor runter ins Tal, zum Einkaufen und um in die Kirche zu gehen.“
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Anders als seine Eltern verbringt der heute 42-jährige Rabensteiner nur noch die Tage auf der Alm. Die ehemalige Stube und die Küche nutzt er als Verkaufsraum. Auf den alten Kommoden und Tischen stehen Ölfläschchen, Kosmetik, Geschenkkörbe. Und doch wirkt es, als würden die Eltern jederzeit zur quietschenden Holztür hereinkommen, um nach getaner Arbeit den Ofen anzuheizen und sich mit den Kindern zum Abendessen zusammenzusetzen.
„Auf dem Ofen“, er zeigt auf den weißen Küchenherd mit seinen großen Klappen, „hat die Mutter bis 2016 noch gekocht.“ Ihr Mus mochte er besonders gerne: warme Milch, angedickt mit Weizenmehl. Ein einfaches, sättigendes Gericht. „Das kam in einer großen Pfanne in die Tischmitte, mit Schmalz obendrauf.“ Auch die Kochutensilien der Mutter – Schöpfkellen, Pfannen, Messer – hängen noch an der Wand. Darüber das Gestell aus dünnen Holzstangen, in denen das Schüttelbrot getrocknet wurde. Auch das beliebte, mit Schabzigerklee gewürzte knusprige Brot entstammt der einfachen Bauernküche.
Am Anfang stand eine Strafanzeige
Obwohl er schon als Kind beim Brennen half, entschied sich Rabensteiner als junger Mann für eine Ausbildung zum Tischler. Die Mutter, die den Betrieb nach dem frühen Tod ihres Mannes 1995 alleine führte, unterstützte er weiterhin allsommerlich auf der Alm. Doch bis er zum Vollzeitölbrenner wurde und die Sache „groß aufzog“, dauerte es fast zwei Jahrzehnte. „Richtig losgegangen ist es mit einer Strafanzeige“, erzählt er und lacht. Die Etiketten, die sie auf ihre Ölfläschchen geklebt hatten, waren nicht gesetzeskonform. „Da wussten wir: Das geht nicht nebenbei. Wenn wir wollen, dass das Handwerk nicht ausstirbt, müssen wir es ordentlich machen. Mit etwas Marketing und mehr Produkten.“
Dazu gehört, dass man die Latschenölbrennerei in den Sommermonaten täglich besichtigen kann – sofern man gut zu Fuß ist. Der Parkplatz Huberkreuz ist eine gute halbe Stunde entfernt. Schöner ist die Wanderung auf der „Südtiroler Himmelstour“, einem knapp 17 Kilometer langen Rundweg. Von der Bergstation der Bergbahn am Rittner Horn dauert der Weg anderthalb Stunden, vorausgesetzt, man widersteht der Versuchung, alle paar Meter stehen zu bleiben, um den Weitblick zu genießen. Da das Rittner Horn die südlichste Erhebung des Gebirgszuges ist, reicht die Sicht weit hinaus, bis zum Großglockner im nördlichen Österreich und den Dolomiten im Süden.
Ein kleines Schild weist den Weg zu der Hütte, die etwas abseits an einem Bach liegt. Kein Zufall, denn zum Brennen benötigt man Wasser. „Früher hat man es auch zum Antreiben der Häckselmaschine genutzt“, sagt Meinrad Rabensteiner. Heute hilft eine benzinbetriebene Maschine – die einzige im gesamten Prozess. „Früher war es schon bissl ein Geschinde“, meint er, die Hände in den Taschen seines Fleecepullovers vergraben. Der Wind zieht durch die Brennerei, die zur Bachseite hin komplett offen ist, aber Rabensteiner scheint es nicht zu merken. Mit der Ruhe eines Menschen, der im Einklang mit der Natur lebt und arbeitet, führt er durch sein Reich.
Wie vor hundert Jahren
Es ist kalt an diesem Vormittag, zu kalt und zu feucht zum Brennen. Um das Öl zu gewinnen, das in den Ästen und vor allem in den Nadeln steckt, werden die Zweige der Kiefern geerntet und zerkleinert. Zuvor aber müssen sie rund zwei Wochen getrocknet werden, weshalb nur in den warmen Sommermonaten gebrannt werden kann. „Wir destillieren noch wie vor 100 Jahren“, heißt es auf der Internetseite des Unternehmens (auch sie ein Teil der Marketingoffensive). „Nur die notwendigsten Reparaturen“ seien in der Brennerei durchgeführt wurden. Man glaubt es sofort beim Blick auf den rußgeschwärzten Ofen und die verbeulten Kessel.
Es ist ein Ort, an dem – diese abgedroschene Phrase muss sein – die Zeit stillzustehen scheint. „Der Behälter hier stammt aus dem Jahr 1895“, sagt Rabensteiner. Er klopft auf die mannshohe Tonne. „Ein Unikat. Funktioniert einwandfrei.“ In den Behälter kommen die Äste nach dem Häckseln. Am besten zeitnah, denn es sei wie beim Kaffee, meint der Brenner: „Das muss frisch gemacht werden, damit das Aroma bleibt.“
Extrahiert wird das Öl mithilfe von Wasserdampf. Dafür heizt Meinrad Rabensteiner, wie schon seine Eltern und Großeltern vor ihm, den großen Holzofen an, der wie ein Tunnel in der Mitte des Raumes liegt. Über ein Rohr wird der Dampf von unten in den Destillationskessel geleitet, wo er beim Aufsteigen den Nadeln und Ästen das ätherische Öl entzieht. Wieder abgekühlt, tropft das Gemisch aus Wasser und Öl in einen kleinen Eimer. Nach sechs bis acht Stunden bleiben rund ein bis eineinhalb Liter Latschenöl.
Neben dem Öl der Latschenkiefer extrahiert er auch das von Fichte, Kiefer, Lärche, Zirbe und Wacholder. Mithilfe von lokalen Produzenten entstehen daraus Shampoos, Hautcremes, Erkältungsbalsam und Duftöle. Fichte wirkt entspannend und entzündungshemmend, Lärche schleimlösend und stimmungshebend, Wacholder hilft bei Rheuma und Muskelschmerzen. Eine Hausapotheke aus dem Wald.
Strom gibt es erst seit Kurzem
Der Bestseller aber bleibe die Latschenkiefer. Und die beruhigende Zirbe, „die boomt gerade“, sagt Rabensteiner. Ist das Öl extrahiert, werden die Kessel geleert. Mit den ausgebrannten Hackschnitzen wird der Ofen geheizt. Strom haben sie – dank einer Photovoltaikanlage – erst seit ein paar Jahren. „Davor gab’s eine Autobatterie, bis 2015 aber gar nichts.“ Gearbeitet wurde im Licht der Kerzen.
Lange Zeit wurden die Äste, quasi wie bei einem Sessellift, an gespannten Drahtseilen zur Hütte transportiert – frühmorgens, denn bei zunehmender Wärme dehnten sich die Seile zu stark. Heute gibt es Traktoren. Die Holzhaken, an denen die Äste eingehängt wurden, hat der Sohn dennoch aufgehoben. „Die hat der Vater alle selbst geschnitzt, während der Wintermonate.“ Es sind hunderte, die in Bündeln an den Wänden des Dachbodens hängen.
Meinrad Rabensteiner bewahrt eine Arbeitsweise, die selbst in den traditionsbewussten Südtiroler Bergregionen nur noch selten zu finden ist. Früher gab es hier viele Brennereien, heute nur noch eine Handvoll, sagt er. „Drei große und uns“.
Auf dem Rückweg zum Rittner Horn sieht man die überall wachsenden Latschenkiefern mit ganz anderen Augen. Kurz vor der Seilbahn, die zurück ins Tal führt, lockt die Feltuner Hütte hungrige Wanderer zur Einkehr. Wer Glück hat, bekommt die Latschen dort auch auf dem Teller serviert, als Risotto zum Beispiel, mit geschmorten Waldpilzen und giftgrünem Latschenöl. Und wer neugierig nachfragt, bekommt vom Juniorchef – einem Cousin des Brennmeisters – noch eine Box mit alten Dokumenten und Bildern auf den Tisch gestellt, in denen der Verkauf des kostbaren Öls und die Arbeit in den Brennereien dokumentiert sind. Und dann, zum Abschied, einen Schnaps aufs Haus. Natürlich von der Latschenkiefer.
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