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Langzeitfolgen sozialer Isolierung„Angst, Verzweiflung, Aggressionen“

Die psychosozialen Folgen der Corona-Kontaktsperre sind nicht abzusehen. Viele der Betroffenen haben das Gefühl, die Türen seien überall für sie zu.

Social Distancing kann depressive Symptome, Schlafstörungen und Schuldgefühle auslösen Foto: imago

Berlin taz | Soziale Isolierung wird momentan als Königsweg zur Eindämmung der Corona-Pandemie angesehen. Leider weisen die statistischen Modelle, auf denen die Entscheidungen der Politiker beruhen, keine Variable „seelische Gesundheit“ aus. So weiß man kaum etwas über die psychischen Folgen der Kontakteinschränkungen.

Auch der bisherige Forschungsstand zum Thema ist dürftig. Bislang sind zwei Studien bekannt, deren Inhalt allerdings alarmierend ist. So wertete das Deutsch-chinesische Alumni­fachnetz in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie (DCAPP) die Daten von 2.144 Anrufern einer Krisenhotline in Wuhan aus, die zwischen dem 4. und dem 22. Februar erhoben wurden. 47 Prozent der Anrufenden berichteten über Angstzustände. Auch depressive Symptome, Schlafstörungen und Schuldgefühle waren häufig. Viele Anrufer hatten körperliche Beschwerden ohne physischen Befund.

Informationen über die Langzeitfolgen sozialer Isolierung lassen sich der Märzausgabe der Wissenschaftszeitschrift The Lancet entnehmen. Hier wurden 24 Studien aus mehreren Ländern zusammengefasst. Alle erhoben die psychische Befindlichkeit von Menschen, die während früherer Epidemien unter Quarantäne standen. Auch Jahre danach zeigten sich negative Effekte wie Schlafstörungen, Ängste und Depressionen. Kinder, die unter Quarantäne standen, hatten ein vierfach höheres Risiko für ein posttraumatisches Belastungssyndrom. Besonders anfällig für Langzeitfolgen waren Menschen in Gesundheitsberufen und Personen mit niedrigem Einkommen.

Inwieweit diese Ergebnisse auf die Situation in Deutschland übertragbar sind, lässt sich schwer sagen. Ein Indikator für das emotionale Stresslevel könnte aber der rasante Anstieg der Anrufe bei der Telefonseelsorge sein. In Berlin-Brandenburg haben sich die Anrufe seit Anfang März fast verdoppelt. Erst war die Corona-Angst das beherrschende Thema. „Niemand wusste, was auf ihn zukommt“, sagt Dienststellenleiter Uwe Müller. „Die Fernsehbilder aus Italien haben die Menschen in Panik versetzt.“ Jetzt stünden ein gewisser „Lagerkoller“ und Einsamkeits­gefühle im Vordergrund.

Notfallpsychologe Florian Stöck, der für den Bundesverband Deutscher Psycholog*innen (BDP) an der Hotline sitzt, sieht vor allem die Entwicklung in Krankenhäusern und Pflegeheimen mit Sorge. Dort lösten die Kontaktsperren oftmals „Angst, Verzweiflung und Aggressionen“ aus. Das gelte für die Menschen in den Einrichtungen wie ihre Angehörigen. Pflegekräfte müssten beide Gruppen beruhigen und seien mit der Situation überfordert. Besonders dramatisch sei die Lage bei Demenzkranken, die die Maßnahmen nicht verstehen könnten. Hier sei die Belastung für die Pflegenden besonders hoch.

Shutdown der psychosozialen Versorgung

Auch die Situation von chronisch psychisch kranken Menschen ist kritisch, worauf die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in einem offenen Brief (pdf-Datei) an die Kanzlerin verweist. Mit dem allgemeinen Shutdown ging auch ein beispielloser Shutdown der psychosozialen Versorgung einher. Psychiatrien entließen viele Patienten, um Platz für Coronastationen zu schaffen. Reha-Maßnahmen in psychosomatischen Kliniken wurden ausgesetzt. Die meisten Tageskliniken und Beratungsstellen für Menschen mit psychischen Problemen wurden geschlossen. Selbsthilfegruppen und -treffpunkte sind dicht.

Dramatisch ist die Lage bei Demenzkranken, die die Maßnahmen nicht verstehen

Die Auswirkungen davon bekommt Simon Geils von der Berliner Kontakt- und Beratungsstelle (KBS) Terra zu spüren, die ­psychiatrieerfahrene Menschen berät: „Viele Klient*innen haben das Gefühl, dass die Türen überall für sie zu sind.“ Das löse Ängste aus und könne Symptome verstärken. Auch in der KBS finden keine persönlichen Beratungen mehr statt, alle Freizeitgruppen wurden geschlossen. Über Telefonge­spräche versucht man den Kontakt aber weiterhin aufrecht zu halten. Geils ist erstaunt, „wie gut einige Klient*innen durch die Krise kommen“. Offensichtlich brächten manche ungeahnte Bewältigungskompetenzen mit.

Auch Christina Rummel von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) will keine Katastrophenszenarien malen, auch, „weil es bislang noch kaum belastbare Zahlen gibt“. Für die Suchthilfe seien allerdings die wöchentlich stattfindenden Gruppenmeetings unerlässlich. Sie hofft, dass Onlineangebote die physischen Treffen wenigstens teilweise ersetzen und die Rückfallquote nicht in die Höhe schnellt. Alkohol sei leider auch immer ein vermeintlicher „Sorgenbrecher“. Wenn der psychische Stress zu stark werde, erscheine der Griff zur Flasche als Ausweg. „Man muss schon sehr aufpassen, dass man dann nicht in eine Abhängigkeit rutscht.“

Dabei sind die psychosozialen Kosten des Shutdowns nicht einfach ein zusätzlicher Posten, den man zu den allgemeinen Kosten hinzuaddieren muss. Psyche und Körper lassen sich nicht voneinander trennen. Seelische Faktoren beeinflussen auch das Infektionsrisiko. Die Neuropsychoimmunologie liefert dazu eindeutige Befunde: Soziale Isolation – das zeigen alle Studien – erhöht das Mortalitätsrisiko. Psychisches Wohlbefinden stärkt die Immunabwehr, während emotionaler Stress die Abwehrkräfte schwächt. Ein eigentlich banaler Zusammenhang, der jedoch beim starren Blick auf Infektionskurven leicht verloren geht.

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11 Kommentare

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  • " 47 Prozent der Anrufenden berichteten über Angstzustände. Auch depressive Symptome, Schlafstörungen und Schuldgefühle waren häufig. Viele Anrufer hatten körperliche Beschwerden ohne physischen Befund. "

    Das sagt leider absolut nichts aus. Klingt erstmal alarmierend, aber warum rufen Menschen bei einer Krisenhotline an?



    Sehr wahrscheinlich haben sie ein Problem. Interessant wäre zu wissen wieviele Anrufe gab es vor Corona. Ist die Zahl angestiegen? Was waren da Gründe für Anrufe?



    Die Website des DACPP als Quelle führt leider ins nichts und auch über googlescholar und andere Portale finde ich die Studie leider nicht. Schade hatte mich erst gefreut dass hier ein Artikel kommt der empirisch argumentiert.

    Auch die Studie die im Lancet erschienen ist muss man erst suchen. Es gibt nicht eine Märzausgabe wie im Artikel suggeriert sondern 4 Märzausgaben. Da kommen dann Zweifel aus dass die Autorin die Original Studie gelesen hat.

    Ich würde mich wirklich sehr freuen wenn Autor*innnen ihre Quellen besser angeben als es leider i.d.R. der Fall ist. Gerade seit Corona liest man häufig von Zahlen und Berichten aus China, Frankreich oder Italien. Das scheint Autor*innen dann schon als Beweis zu genügen. Ist dann leider akribische Kleinstarbeit diese Zahlen aus China zu finden...

  • @Andreas J: Artikel überhaupt gelesen?



    Den Mitarbeitern in den Einrichtungen, der psychosozialen Versorgung, die vorgestellt werden, geht es gerade darum, auf Menschen, nämlich Ihre Klienten unter den erschwerten Bedingungen der Coronakrise "zu achten" und eine Verschlimmerung ihrer Symptome zu verhindern.



    Schließlich können nicht alle, die psychische Beeinträchtigungen haben, alle 2 Jahre nach Westafrika reisen.

    • @Klarblick:

      Kommentar nicht verstanden? Natürlich muss darüber gesprochen werden und die betroffenen leiden. Mir geht es um die Doppelmoral von nicht betroffenen. Psychisch Kranke werden oft diskriminiert, von der Gesellschaft oft allein gelassen und haben keine Lobby. Nun in der Kriese wird von einigen ihr Leid als Argument gegen die Einschränkungen genommen. Danach sind wir für die meisten wieder vergessen. Das Beispiel Afrika habe ich gebracht um deutlich zu machen, das eine Gesellschaft in der die Gemeinschaft / die Gruppe einen hohen Stellenwert hat, positive Auswirkungen auf depressive Erkrankungen hat. Man fühlt sich als Mensch akzeptiert und erlebt wieder emotionale Nähe. Dann sind auch Kriesen wie Corona psychisch leichter zu meistern.

  • Die Stärke und Reichweite der Folgen wird maßgeblich davon abhängen wie schnell der Lockdown endet, ob man während des Hochfahrens einen besonderen Blick auf die psychische Befindlichkeit der Menschen hat und ob diese aktiv angegangen wird. Für viele Menschen kann der Lockdown und auch seine späteren persönlichen und wirtschaftlichen Folgen traumatisch sein und zu postraumatischen Belastungsstörungen führen, insbesondere wenn die Trauma nicht zeitnah mit professioneller HIlfe integriert und dadurch aufgelöst werden.



    Die Frage nach der psychischen Verfassung und eine besondere Sensibilität für Hinweise auf psychologische Probleme sollte zum Standard für jeden Arzt werden und das muss Geld dafür und die gegebenenfalls erforderliche Behandlung muss bereitgestellt werden. Ein Staat 2 Milliarden Euro Hilfen für ein einzelnes nicht-systemrelevantes Unternehmen (Adidas) bereitstellt, muss dazu in der Lage sein ansonsten verliert dieses Staatswesen seine moralische Legitimität.



    Dies setzt aber auch in der Gesellschaft eine vom ICH zum WIR voraus, denn die erforderlichen finanziellen Mittel müssen von allen aufgebracht werden. Dabei muss endlich das Belastungbarkeitsprinzip umgesetzt werden, je mehr jemand hat (Vermögen first, Einkommen second) desto mehr muss er beitragen, ein exponentieller Anstieg des Beitrags ist hier gerechtfertigt.

  • Die Menschen hatten schon davor Probleme. Viele ausgelöst durch unsere Leistungsgesellschaft die das eigene Ich über die Gemeinschaft stellt. Ich selbst leide seit vielen Jahren unter Depressionen. Linderung habe ich in Westafrika gefunden, wo das Kollektiv / die Gemeinschaft einen hohen Stellenwert hat. Ich bin alle zwei Jahre für 6 Wochen dort und kehre gestärkt und stabil zurück. Wenn ihr euch wirklich sorgen um psychisch Kranke macht, arbeitet an einer Veränderung der Gesellschaft als Gemeinschaft in der man auf den einzelnen achtet und mitnimmt und sich nicht nur dafür interessiert, wann man wieder Shoppen und in den Biergarten kann. Ich,ich,ich,ich......

     

    Kommentar gekürzt. Bitte vermeiden Sie Unterstellungen.

    Die Moderation

  • Längst überfällig, dass das Thema des psychosozialen Lockdowns, der mit den Kontakteinschränkungen einhergeht, endlich aufgegriffen wird.

    Wundere mich, dass eine Zeitung wie die taz das Thema nicht schon längst aufgegriffen hat

  • Kommentar entfernt. Bitte vermeiden Sie missverständliche Äußerungen.

    Die Moderation

  • @Mogli



    Ja, es geht bei diesem Diskurs auch um Macht. Und diejenigen, die von ihm profitieren, schwingen regelmäßig die Moralkeule, wenn abweichende Argumente auftauchen. Angeblich geht es nur um schnöde wirtschaftlichE Interessen oder Vergnügungssucht,wenn über Exit-Strategien nachgedacht wird. Dass dabei auch die Belange psychisch beeinträchtigte r Menschen oder anderer vulnerabler Gruppen berücksichtigt werden müssen,wird ignoriert, schon weil da die Lobby fehlt

  • Ein wichtiger Aspekt, der in der ganzen Debatte total vernachlässigt wird.

    Hinzu kommen noch in ein paar Monaten hohe Arbeitslosenzahlen, die wiederum Auswirkungen auf die Psyche haben, zum Beispiel Depressionen und eine höhere Selbstmordrate. Die psychischen Kosten des Lockdowns werden gigantisch sein.

  • Zitat: „Psychisches Wohlbefinden stärkt die Immunabwehr, während emotionaler Stress die Abwehrkräfte schwächt. Ein eigentlich banaler Zusammenhang, der jedoch beim starren Blick auf Infektionskurven leicht verloren geht.“

    Stimmt. Vor allem, wenn es denen, die starren Blicks auf Zahlen und Kurven glotzen, weniger um individuelle aber macht- und Einfluss lose Menschen geht, die ihnen etwas bedeuten, als vielmehr um die tragende Rolle der eigenen Bedeutung oder andere wichtige Ziele. Ziele wie etwa die Rettung des „Systems„, dem sie ihre eigene „Relevanz“ (sprich: ihre Handlungsfähigkeit, um nicht zu sagen Macht) verdanken.

  • Welche Kontaktsperre bitte?