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Landtagswahl in NiedersachsenDas geht auf seine Kappe

Im Wahlkampf müssen Grüne wie Norbert Gast die Energiepolitik ihrer Partei verteidigen und Habecks Fehler erklären. Nach Atomkraft fragt kaum jemand.

Norbert Gast hat kaum Chancen, gewählt zu werden. Trotzdem hat er sich für den Wahlkampf fünf Wochen frei genommen Foto: Moritz Küstner

Hannover/Wilhelmshaven taz | Fünf Wochen Urlaub hat sich Norbert Gast genommen, um Wahlkampf in Vollzeit zu machen. Fußgängerzonen, Marktplätze, Schulaulen: Zwei Einsätze pro Tag sind derzeit sein Minimum. Mit Listenplatz 38 und einem für die Grünen schwierigen Wahlkreis im Süden Hannovers hat er zwar kaum eine Chance, ins Parlament zu kommen. Aber was soll’s: Wenn er gebraucht wird, ist der 37-Jährige – seit 2010 Mitglied, seit Jahren im Stadtrat – für die Partei da.

Am Mittwoch dieser Woche ist er wieder bis in den Abend unterwegs. Erst ein paar Stunden Flyer verteilen am Kröpcke, dem zentralen Platz der Stadt, dann ab in den Wahlkreis zum Haustürwahlkampf. Dutzende Häuser, Hunderte Klingeln, ungezählte Treppenstufen. Es läuft ganz okay an diesem Tag, Gast führt zumindest nicht nur schlechte Gespräche. Bloß: Um das Programm für die Landtagswahl, das er im Gepäck hat und für das er eigentlich werben will, geht es fast nie. Die Menschen fragen nicht danach.

„Die Lage im Bund überdeckt dieses Jahr sehr vieles“, sagt Gast über die vergangenen Wochen.

Am Sonntag wählt Niedersachsen einen neuen Landtag. Die letzte große Koalition Deutschlands, die in Hannover seit 2017 regiert, könnte danach Geschichte sein. Vieles deutet auf Rot-Grün hin; in Umfragen hat das Bündnis eine Mehrheit, und die Grünen in Niedersachsen stehen der SPD näher als der CDU. Ob es rechnerisch am Ende reicht, ist aber offen – ebenso, ob die FDP wieder ins Parlament einzieht. Auf das Abschneiden der Liberalen schauen auch die Koalitionspartner in Berlin genau: Sollte die FDP auch die vierte Landtagswahl des Jahres verlieren, könnte das Gefüge der Ampel im Bund noch labiler werden.

Die Wahl in Niedersachsen

Umfragen

Die SPD ist vor der Landtagswahl am Sonntag in Führung: Sie kommt zwar nicht an die 36,9 Prozent aus der Wahl 2017 heran, liegt aber immerhin stabil über 30 Prozent. Die CDU folgt knapp darunter, die Grünen mit zuletzt 16 Prozent auf Rang 3. Die AfD könnte zweistellig werden, die FDP muss zittern, die Linke schafft es wohl erneut nicht in den Landtag.

Koalition

Seit fünf Jahren regiert in Niedersachsen eine Große Koalition. Zuvor hatte die SPD mit den Grünen regiert, die bei der Landtagswahl 2017 aber große Verluste einfuhren. Dieses Jahr könnte es wieder für eine rot-grüne Mehrheit reichen. Für beide Parteien wäre das die bevorzugte Konstellation.

Kandidaten

Der SPD-Politiker Stephan Weil ist seit fast zehn Jahren Ministerpräsident von Niedersachsen. Er tritt erneut zur Wahl an. Sein Herausforderer ist CDU-Landeschef Bernd Althusmann, aktuell Wirtschaftsminister und Vize-Regierungschef in Weils Kabinett. Bei den Grünen hat ein Duo die Spitzenkandidatur: Julia Willie Hamburg, Fraktionschefin im Landtag, und Christian Meyer, ehemaliger niedersächischer Landwirtschaftsminister.

So knapp Vieles aber ist: Die Wahl­kämp­fe­r*in­nen vor Ort haben nur begrenzt Möglichkeiten, noch etwas zu bewegen. Viele von ihnen machen Erfahrungen wie Norbert Gast in Hannover. Die Themen der Landespolitik, die Zukunft der Förderschulen zum Beispiel, stehen nicht im Mittelpunkt. Es ist die erste Wahl in Deutschland, seit die Energiekrise als Folge des Ukrainekriegs voll zugeschlagen hat. Entsprechend sind es Themen der Bundespolitik, die die Wahl prägen.

„Die Baerbock gehört in den Knast!“, sagt am Mittwochnachmittag in der Fußgängerzone ein Passant zu Norbert Gast. „Die Tante zerschlägt auf der ganzen Welt nur Porzellan!“ Früher habe er die Grünen gewählt, aber spätestens seit den Waffenlieferungen an die Ukraine sei die Partei für ihn erledigt. „Es lohnt sich wohl nicht, wenn wir jetzt diskutieren“, entgegnet Gast knapp.

Nebenan unterhält sich ein Parteifreund von ihm mit einem alten Mann. „Bekommen wir Rentner jetzt auch die 300 Euro?“, will der von ihm wissen.

„Ja, hat das Bundeskabinett heute beschlossen“, antwortet der Grüne.

„Wann werden die ausgezahlt?“

„Im Dezember.“

„Muss ich das versteuern?“

„Ich glaube schon.“

„Und die Gasumlage?“

„Ist weg.“

Die Sorgen über steigende Preise, die späten Gegenmaßnahmen der Bundesregierung: Sie sind am Kröpcke immer wieder Thema. Wahl­kämp­fe­r*in­nen anderswo in Niedersachsen berichten Ähnliches. An den Wahlurnen profitiert von der Krise womöglich am stärksten die AfD. Obwohl der niedersächsische Landesverband eine Trümmertruppe ist, stieg sie in Umfragen auf 11 Prozent. In die andere Richtung geht es für die Ampelparteien. Nicht so sehr für die SPD, die in Niedersachsen stark verankert ist und mit Stephan Weil einen beliebten Ministerpräsidenten stellt – bei Landtagswahlen ein wichtiger Faktor.

Die FDP ist in Umfragen aber auf 5 Prozent gefallen und die Grünen von über 20 auf nur noch 16 Prozent. Am Sonntag könnte die Partei damit zwar leben. Es wäre immer noch ein Rekordergebnis in Niedersachsen. Noch weiter runter sollte es aber nicht gehen.

Eine verbreitete Lesart in der Partei: So wie im Frühjahr bei den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein die Landesgrünen vom Hype um Robert Habeck profitiert haben, leiden sie jetzt in Niedersachsen darunter, dass der Vizekanzler zum Gesicht hoher Preise geworden ist. Ein Stück weit selbst verschuldet, weil Habecks Ministerium die unbeliebte Gasumlage entwickelt und dabei Fehler gemacht hat. Ein Stück weit aber zu Unrecht, weil SPD und FDP einiges dazu beigetragen haben, zu ihrer Verantwortung aber nicht stehen.

Immerhin: Dass sich die Ampelkoalition vergangene Woche doch noch dazu durchringen konnte, 200 Milliarden neuer Kredite für Hilfsprogramme aufzunehmen, könnte gerade rechtzeitig vor der Niedersachsenwahl den Ärger vieler Wäh­le­r*in­nen gedämpft haben. Detailfragen, gerade zur Gaspreisbremse, hat die Regierung zwar noch nicht geklärt. Misstrauen bleibt daher. Trotzdem berichten Wahl­kämp­fe­r*in­nen von einem Stimmungsumschwung. „Donnerstags wurde der Abwehrschirm verkündet. Samstags stand ich wieder auf dem Marktplatz – und die Stimmung war grundlegend anders. Die Leute haben wieder Hoffnung“, sagt Julian Pahlke, grüner Bundestagsabgeordneter aus dem Emsland.

Nicht weit von seinem Wahlkreis entfernt, in Lingen, steht das letzte aktive Atomkraftwerk Niedersachsens. Auch die Kernkraft, obgleich ebenfalls Bundesthema, hat im Wahlkampf eine Rolle gespielt. Die CDU, vor allem aber die FDP werben für Laufzeitverlängerungen um mehrere Jahre. Stefan Birkner, Spitzenkandidat der Liberalen, legte sogar einen Foto-Termin vor dem AKW Emsland ein.

Atomkraft ist bei uns überhaupt kein Diskussions­thema

Carsten Feist, Oberbürgermeister von Wilhelmshaven

„Bye bye, AKWs!“, haben dagegen die Grünen plakatiert. Der niedersächsische Landesverband ist selbst für Grünenverhältnisse außerordentlich kernkraftkritisch. In Gorleben und anderswo im Land hat die Anti-AKW-Bewegung schließlich einige ihrer größten Kämpfe gefochten. Vor dem Bundesparteitag am kommenden Wochenende zeichnet sich parteiintern zwar ein Kompromiss ab (keine neuen Brennstäbe, Lingen wie geplant abschalten, aber zwei Atomkraftwerke in Süddeutschland wohl etwas länger am Netz lassen), der Weg dorthin war aber holprig.

Die Wäh­le­r*in­nen polarisiert das Thema vor der Landtagswahl aber womöglich gar nicht. Als Norbert Gast am Mittwoch am Kröpcke steht, spricht ihn niemand auf die Atomkraftwerke an. Auch in den vergangenen Wochen seien sie hier selten Thema gewesen, sagt er. An den Brennpunkten wie im Emsland ist das Thema zwar präsenter. Grünen-Wahlkämpfer*innen von dort berichten aber, dass auch sie für die Kompromisslinie der Partei kaum negatives Feedback erhielten – weder von der einen noch von der anderen Seite. Die Umfragen lassen ebenfalls vermuten, dass die Atomkraft die Wahl nicht entscheidet: Die Werte der FDP gingen auch durch ihre Pro-AKW-Kampagne nicht hoch.

„Atomkraft ist bei uns überhaupt kein Diskussionsthema, und ich bin viel unterwegs“, bestätigt Carsten Feist, parteiloser Bürgermeister von Wilhelmshaven. In den letzten Monaten sei er kein einziges Mal von Bür­ge­r*in­nen auf das Thema angesprochen worden. Denen würden vor allem die steigenden Energiepreise zu schaffen machen. Die AKW-Debatte sei eine „Phantomdiskussion“, die Mengen an Strom, die aus Atomkraftwerken kämen, irrelevant.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

In Wilhelmshaven hofft man auf andere Energiequellen: Wind und Gas. Im Meer vor der Stadt wird seit Mai an einem Flüssiggasterminal gebaut. Eine Reaktion auf den Ukrainekrieg, schon am 22. Dezember soll hier der erste Tanker anlegen. Das Terminal wird so gebaut, dass es künftig auch Schiffe mit Wasserstoff entladen kann. Den will man auch selbst herstellen, mithilfe des Stroms nämlich, den Windräder vor der Küste und an Land liefern.

Seit Beginn der Krise gibt es auch anderswo in Niedersachsen Ideen und Pläne zu neuen Energieprojekten: Gasbohrungen vor Borkum, Fracking auf dem Festland. Die Landespolitik hat in diesen Fragen tatsächlich ein Mitspracherecht und vor allem lokal spielen die Themen eine Rolle. Umstritten sind sie schließlich alle. Den Wahlkampf prägen aber auch sie nicht.

Auch nicht am Stand von Norbert Gast in Hannover. Die Kinder-Windräder, die die Grünen als Werbegeschenke dabei haben, gehen dort zwar gut weg. Aber LNG, Fracking oder Windparks? Danach fragt niemand.

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1 Kommentar

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Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • 》Früher habe er die Grünen gewählt, aber spätestens seit den Waffenlieferungen an die Ukraine sei die Partei für ihn erledigt. „Es lohnt sich wohl nicht, wenn wir jetzt diskutieren“, entgegnet Gast knapp《

    》Keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete und Diktaturen《 stand im Wahlprogramm 2021 der Grünen - und jetzt lohnt noch nicht mal eine Diskussion?

    》Am 1. Mai 2022 kritisierte Ströbele die Parteispitze der Grünen, die imKabinett Scholzan der Bundesregierung beteiligt sind, bezüglich deren Reaktion auf denrussischen Überfall auf die Ukraine 2022. Er betonte, „bei dem Vorgehen, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern“, handele „es sich um erprobte, international seit Jahrzehnten anerkannte und auch gute Grundsätze der Friedenspolitik“《 (Wikipedia)

    Keine zwei Monate nach Ströbeles Tod sind diese Grundsätze für grüne Wahlkämpfer schon indiskutabel?