Landtagswahl in Hessen: Alles in grüner Soße?
Am Sonntag könnten die Grünen in Hessen triumphieren. Auch dank ihres geschmeidigen Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir.
Am 12. Dezember 1985 hob ein junger Mann vor dem hessischen Landtag die Hand zum Amtseid. Joschka Fischer, Wuschelkopf, Fischgrätensakko, weiße Turnschuhe, war der erste Minister der Grünen überhaupt.
Im Herbst 2008 versuchte die SPD-Politikerin Andrea Ypsilanti, eine rot-grüne Koalition mit Tolerierung durch die Linkspartei zu schmieden. Es war der erste rot-rot-grüne Versuch in einem westdeutschen Flächenland und endete bekanntlich im Chaos, weil vier SPD-Abgeordnete Ypsilanti ihre Stimme verweigerten.
Wenn man so will, ist in dem Bundesland, das am Sonntag wählt, alles zu Hause, was Politik spannend macht: Radikalität, Experimentierfreude, aber auch Pragmatismus. Auch dieses Mal wird es spannend. Denn für die im Moment regierende schwarz-grüne Koalition – übrigens auch die erste, die bis zuletzt verlässlich funktionierte – wird es eng, ebenso für eine Große Koalition, die weder CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier noch SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel wollen. Stattdessen könnten für die Mehrheitsbildung Dreierbündnisse nötig werden.
Historisches Potenzial
Joschkas Erben, die hessischen Grünen, rutschen dann in eine Schlüsselposition. Unter ihrem Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir werden sie vermutlich ein Rekordergebnis einfahren. Regieren sie weiter mit Bouffiers Konservativen, zur Not dann eben zusammen mit der FDP? Würden sie die FDP von einer Ampel mit der SPD überzeugen können? Oder wagen sie ein Linksbündnis, das es in Hessen noch nie gab?
Die beiden letzten Varianten haben historisches Potenzial: Manches Institut sieht die Grünen sogar vor der SPD. Al-Wazir könnte also Ministerpräsident werden, wenn er SPD und Linkspartei oder FDP für sich gewänne. Das hat bisher nur Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg geschafft. Wo Fischer einst in Turnschuhen als Minister vereidigt wurde, säße dann der zweite grüne Ministerpräsident der Republik auf der Kabinettsbank.
Holger Börner, hessischer Ministerpräsident, im Jahr 1982 über Startbahn-West-Demonstranten
Mittwochnachmittag, das Junge Museum in Frankfurt. Al-Wazir hat sich zusammen mit dem aus Stuttgart angereisten Kretschmann eine Ausstellung über Revolutionen und BürgerInnenproteste angeschaut, darunter die Demos gegen die Startbahn West in den 80ern, bei denen die Grünen vorne mit dabei waren. Kretschmann, 70 Jahre, ist seit sieben Jahren Ministerpräsident, der 47-jährige Al-Wazir bisher nur Vize und Wirtschaftsminister.
Trauen Sie Ihrem Parteifreund das Amt des Regierungschefs zu, Herr Kretschmann? Seine Antwort kommt im Museumscafé schnell, sie wird begleitet von einem kehligen Lachen: „Ja, hallo!“ Al-Wazir schaut, als sei ihm das etwas unangenehm. „Gemach, Gemach“, sagt der Hesse stets im Duktus eines Politikers im gesetzten Alter, wird er auf die Chance angesprochen, Bouffier in Pension schicken zu können. „Wir Grüne wollen jedenfalls so stark werden, dass bei der Regierungsbildung keiner an uns vorbeikommt.“ Eine Floskel, aber sie könnte Realität werden.
Ruhig und professionell
Al-Wazir weiß wie alle anderen wichtigen Grünen: Es wäre Harakiri, den Mund kurz vor der Wahl zu voll zu nehmen. Ein Linksbündnis unter Führung der Grünen, das ist für viele CDU-WählerInnen im strukturkonservativen reichen Südhessen so etwas wie Ökokommunismus, aller schwarz-grünen Annäherung zum Trotz.
Auch in der Bundespartei mag niemand über einen grünen Ministerpräsidenten spekulieren. „Ich finde es bemerkenswert, dass wir aus dieser Koalition gestärkt hervorgehen“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Oft werde der Juniorpartner in einem Bündnis ja eher geschwächt. „Und schwarz-grüne Koalitionen sind für uns nicht einfach, die in Hamburg endete bekanntlich im Chaos.“
Wie ruhig und professionell Al-Wazir das schwierige Bündnis gemanagt hat, ist in der Tat eine große Leistung. Schwarz-Grün in Hessen, gestartet vor fünf Jahren, war im Grunde der erste ernstzunehmende erfolgreiche Testlauf dieser Koalition. Und die bis zuletzt durchgehaltene Stabilität war anfangs keineswegs ausgemachte Sache. Die CDU in Hessen verstand sich seit jeher als konservativer Kampfverband. Alfred Dregger, Manfred Kanther oder Roland Koch: Ihre Führungsfiguren trugen das Haar messerscharf gescheitelt und vertraten einen schneidigen Konservatismus, der in der Merkel-CDU längst ausgestorben ist.
Nach fünf Jahren Koalition mit der CDU boomen die Umfragewerte der Grünen. Warum? Das versucht taz-Redakteurin Dinah Riese an diesem Wahlsonntag herauszufinden. Ihre Stationen:
10.50 Uhr, Offenbach. Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir gibt seine Stimme zur Hessenwahl ab. Zum Video Teil 1 und Teil 2
12.40 Uhr, Frankfurt-Nordend. Bezahlbarer Wohnraum war ein großes Thema im Wahlkampf. Ein Gespräch mit dem Mieterbund. Zum Video
14.00 Uhr, Flughafen FFM. Ausbau, Fluglärm, Feinstaub – klingt nach grünen Themen. Aber Anwohner*innen sind nicht so glücklich. Zum Video
16.06 Uhr, Wiesbaden. Es ist Mürvet Öztürks letzter Tag im Landtag. Aus der Grünen-Fraktion ist sie 2015 ausgetreten. Zum Video
17.00 Uhr, hessischer Landtag. Zeit für eine Analyse mit taz-Hessenkorrespondent Christoph Schmidt-Lunau. Zum Video
17.55 Uhr, Wahlparty der Grünen. Vermutlich wird hier gleich laut gejubelt. Zum Video
18.35 Uhr, hessischer Landtag. Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir spricht. Zum Video
20.05 Uhr, hessischer Landtag Fazit. Zum Video
Doch mit Bouffier, dem brummig-freundlichen Merkel-Verteidiger, gelang das Kunststück. Al-Wazir und er duzen und schätzen sich, sie waren die Anker dieser schwierigen Koalition. Trotz großer Gegensätze in der Flughafen- und Verkehrspolitik, in ökologischen oder flüchtlingspolitischen Fragen regierten CDU und Grüne erstaunlich skandalfrei.
Der hessische Pragmatismus
Das lag auch daran, dass der Pragmatismus der hessischen Grünen legendär ist. Man könnte auch sagen: ihre Biegsamkeit. So enthielt sich ihre Fraktion zum Beispiel, als der Landtag 2014 über einen Untersuchungsausschuss zu den Morden der rechtsextremen Terrorgruppe NSU abstimmte – um den langjährigen Innenminister Bouffier zu schützen. Linke Grüne werden immer noch rot vor Wut, wenn sie sich daran erinnern.
Der Wunsch zu gestalten ist in der DNA der hessischen Grünen fest angelegt. Die Bereitschaft, schmerzhafte Kompromisse zu machen, ebenso. Fischer, der Übervater, drängte seine Partei zum Regieren und rang ihr als Außenminister das Ja zum völkerrechtswidrigen Kosovokrieg ab. Seine Turnschuhe, die es später ins Haus der deutschen Geschichte in Bonn schafften, legte der einstige Straßenkämpfer schnell ab, um fortan mit Dreiteiler und Krawatte den Staatsmann zu geben.
Vielleicht sind seine Nachfolger in Hessen auch deshalb so pragmatisch, weil die Verhältnisse hier lange so ungrün wie nur was waren. Auch die Sozialdemokratie, die das Land von 1946 bis weit in die 80er fest im Griff hatte, züchtete hier knorrige Typen heran. Holger Börner, gelernter Betonfacharbeiter und bis 1987 Ministerpräsident, drohte den Startbahn-West-Demonstranten mit den legendären Sätzen: „Ich bedauere, dass es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen.“ Früher auf dem Bau habe man „solche Dinge mit der Dachlatte erledigt“. Der einstige Grünen-Fresser war es dann, der die mit den Protesten eng verbandelte Ökopartei nicht verprügelte, sondern im Oktober 1985 in die Regierung hievte.
Aber wie weit reicht die grüne Experimentierfreude? Warum sollte Al-Wazir dem erprobten Modell mit der CDU für ein Linksbündnis den Rücken kehren?
Die „Ausschließeritis“
Da wäre zunächst die FDP, die wohl mit ins Boot müsste und den Grünen in herzlicher Abneigung verbunden ist. Die Liberalen haben bereits öffentlich das Amt des Wirtschaftsministers für sich beansprucht, das Al-Wazir nicht kampflos räumen wird. Auch der Grünen-interne Druck wäre nicht zu unterschätzen. Die Grünen sind sehr erfolgreich damit, sozialpolitische Themen nach vorne zu schieben – und sich als gemäßigt radikal zu positionieren. Ließen sie in einem wichtigen Bundesland ein Linksbündnis liegen, wäre das ein Widerspruch: In Bayern hätten sie liebend gerne mit Seehofers CSU koaliert, aber das inhaltlich schlüssigere Rot-Rot-Grün soll nicht gehen? Das wäre zumindest schwer vermittelbar.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Al-Wazir ist der Erfinder eines Gedankens, mit dem die Grünen lange fremdelten, der sich aber in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat. Er verwendete schon 2008 den wunderbaren Begriff „Ausschließeritis“, um die Neigung von Parteien zu geißeln, sich vor Wahlen auf Lieblingspartner festzulegen. Hessens Grüne beharren seither auf ihrer Eigenständigkeit – und halten sich alle Koalitionen offen. Linke Grüne verweisen auch darauf, dass an dem erklärten Realo Al-Wazir Vorwürfe gegen allzu linkes Spinnertum abperlen würden. Wenn einer Grün-Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün glaubwürdig machen könne, hoffen sie, dann der Oberpragmatiker Al-Wazir.
Auf dem Rundgang durch das Junge Museum in Frankfurt erläutert die Museumspädagogin anhand einer Schautafel, wie Kinder hier durchspielen können, wie man eine Demonstration organisiert. „Da lernen sie, dass Basisdemokratie schwierig und anstrengend ist“, sagt sie. Al-Wazir beugt sich zu Kretschmann hinüber und raunt ihm zu: Bei den hessischen Grünen würden wichtige Fragen auf Landesversammlungen entschieden, bei denen jedes Mitglied abstimmen könne.
Auch das könnte für das Neue sprechen: Sollte im nächsten Landtag rechnerisch ein Linksbündnis oder eine Ampel unter grüner oder sozialdemokratischer Führung möglich sein, könnte die Basis verlangen, der CDU den Laufpass zu geben. Dass eine Landesversammlung ein Jamaika-Bündnis durchwinkt, mit großen Zugeständnissen an die FDP, obwohl es dazu Alternativen gibt, ist schwer vorstellbar.
Aber auch wenn Al-Wazir sich für die konservative Jamaika-Variante entschiede, wäre eines klar: Diese Koalition ließe sich ebenfalls als Avantgarde verkaufen.
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