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Lage von Sy­re­r:in­nen in der TürkeiIn die Ecke gedrängt

Bis zu 600 Geflüchtete sollen derzeit täglich aus der Türkei nach Syrien zurückkehren. Ihre Lage scheint sonst gerade im Erdbebengebiet ausweglos.

Bild der Verwüstung: Die Aufnahme von Februar zeigt die beim Erdbeben stark getroffenen Provinz Hatay Foto: dpa

Gaziantep, Kırıkhan taz | Seit etwa acht Monaten müssen die Menschen hier zumindest nicht mehr in Zelten leben. Alican Mutlu führt durch die Containersiedlung am Rande der südtürkischen Stadt Kırıkhan. Kinder tollen umher, trotz der Temperaturen um die fünf Grad tragen sie keine Winterjacken, sie stecken barfuß in Schlappen. Zweimal die Woche kommt Mutlu mit seinem Team aus Sozialarbeitern in das Camp, um die Menschen, die hier alle aus Syrien stammen, zu unterstützen.

Für die europäische Asylpolitik ist die Türkei von zentraler Bedeutung, etwa drei Millionen Geflüchtete aus Syrien leben in dem Land. Nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad mehren sich die Nachrichten von Syrer*innen, die an der türkisch-syrischen Grenze Schlange stehen, um in ihr Heimatland zurückzukehren.

Nach Angaben des türkischen Innenministeriums verlassen seit dem Sturz Assads etwa 500 bis 600 Sy­re­r*in­nen täglich die Türkei. Doch die Behörden planen nun in weitaus größeren Maßstäben: Innenminister Ali Yerlikaya von der regierenden AKP kündigte an, die Grenzübergänge so auszustatten, dass sie bis zu 20.000 Ausreisende pro Tag abfertigen können – derzeit liege die Kapazität bei etwa 3.000 Menschen.

Die Türkei kämpft mit enormen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die Inflationsrate beträgt fast 60 Prozent. Geflüchtete müssen immer häufiger als Sündenböcke für die Krise herhalten.

Lebenshaltungskosten sind für die Familien dramatisch

Alican Mutlu arbeitet für den Roten Halbmond und ist wöchentlich in dem Flüchtlingscamp in Kırıkhan, um hier mit anderen Mitarbeitern der türkischen Wohlfahrtsorganisation nach den Kindern zu sehen. In den Containersiedlungen, wo im Erdbebengebiet weiterhin Zehntausende Menschen leben, werden Geflüchtete von der einheimischen Bevölkerung getrennt.

Gerade in den Provinzen im Süden und Südosten hatten die Menschen aus Syrien und türkische Staatsbürger zuvor oftmals Seite an Seite gelebt. Doch das verheerende Erdbeben, bei dem in der Türkei im Februar 2023 fast 54.000 Menschen starben und Hunderttausende obdachlos wurden, hat wie ein Brandbeschleuniger für die gesellschaftliche Spaltung im Land gewirkt.

Mutlu berichtet von den Bedingungen im Camp, etwa 1.200 Menschen leben hier. „Durch das Erdbeben sind viele immer noch traumatisiert, es gibt Familien, die ihre Kinder verloren haben“, sagt er. Die Lebenshaltungskosten drängten Jungen von etwa 15 Jahren in schwere körperliche Arbeit, bei Mädchen gebe es in diesem Alter zahlreiche Zwangsverheiratungen.

Die Mitarbeiter des Roten Halbmonds sind auch in informellen Camps unterwegs, die es in der Provinz Hatay seit dem Beben gibt. Hier leben syrische Geflüchtete oft ohne Registrierung in Zelten auf Ackerflächen und haben noch weniger Zugang zu medizinischer Versorgung oder Schulen.

Geflüchtete, die in Syrien nicht alles verloren haben, könnten eine Rückkehr verstärkt in Erwägung ziehen. Diejenigen, die anfangs an den Grenzübergängen standen, um nach Syrien zurückzukehren, berichteten gegenüber Associated Press jedoch von anderen Motiven: Ein junger Mann gab an, seinen Bruder suchen zu wollen, der unter Assad inhaftiert worden sei.

Menschenrechtsorganisationen berichteten unlängst von erschwerten Bedingungen für Geflüchtete, eine offizielle Registrierung in der Türkei zu erhalten. „Das System drängt die Geflüchteten zunehmend in die Papierlosigkeit“, sagt Meral Zeller von der deutschen Organisation Pro Asyl. Türkische Anwaltsvereine hatten zuletzt über immer häufiger auftretende Willkür bei der Registrierung berichtet. Demnach können viele Geflüchtete sich nicht anmelden, weil entsprechende Büros geschlossen sind oder die Menschen weggeschickt werden.

Wer es schafft, sich anzumelden, muss an seinem Wohnort bleiben: In der Türkei gilt für Geflüchtete eine strenge Residenzpflicht. Gerade im Erdbebengebiet stellt das viele vor das Dilemma, entweder dort in bitterster Armut zu verharren oder in anderen Regionen der Türkei Geld zu verdienen – und beim Fehlen von Arbeitsgenehmigungen in Abschiebehaft zu landen.

Von der EU mitfinanzierte Abschiebezentren

Die EU finanziert zwar eine Bezahlkarte für Geflüchtete, doch derzeit profitieren nur etwa 1,9 Millionen der insgesamt etwa 3,5 Millionen Schutzsuchenden im Land davon. Das Geld reicht ohnehin nicht zum Leben. Umgerechnet 14 Euro stehen einer Person pro Monat zu. Der Mindestlohn liegt in der Türkei derzeit bei 460 Euro – selbst damit lässt sich in Gaziantep kaum eine Miete finanzieren, geschweige denn in einer Stadt wie Istanbul, wo auch besonders viele Geflüchtete leben.

Auf der Landstraße zwischen den Provinzen Gaziantep und Hatay, in der die Stadt Kırıkhan liegt, sind Fahrzeugkontrollen von Gendarmerie und Migrationsbehörde an der Tagesordnung. Wer sich als Geflüchteter nicht an seinem registrierten Ort befindet, kann aufgegriffen und inhaftiert werden.

Offiziell gibt es nur freiwillige Ausreisen aus der Türkei nach Syrien, doch türkischen Anwälteorganisationen zufolge erfüllt die Türkei ihre Gatekeeper-Funktion für die EU immer rigoroser und schottet sich gegen Geflüchtete ab.

Für ihre Asylpolitik erhält die Türkei tatkräftige Unterstützung der EU. Zwischen 2020 und 2023 hat Brüssel Ankara etwa 3,5 Milliarden Euro bereitgestellt. Viel Geld fließt auch in humanitäre Projekte, um die Folgen des Erdbebens für syrische Geflüchtete zu lindern. In ihrem Jahresprüfungsbericht für 2023 berichtet die EU jedoch, dass sogenanntes Migrationsmanagement in der europäisch-türkischen Zusammenarbeit immer wichtiger werde.

Das gemeinnützige Recherchezentrum Lighthouse zeichnete Zusammenarbeit mit dem Spiegel die Verstrickungen Brüssels mit der restriktiven türkischen Migrationspolitik nach. Demnach flossen bislang etwa 213 Millionen Euro aus der EU in den Aufbau und die Unterhaltung der 30 Ausreisezentren in der Türkei. Auch für die mobilen Kontrolleinheiten der türkischen Migrationsbehörde soll das Geld aus EU-Mitteln stammen.

Mit dieser Politik wird in der Türkei auch eine Stimmung bedient: Spätestens im Wahlkampf 2023 nahmen die Narrative gegen die Ein­wan­de­re­r*­in­nen in der Türkei deutlich an Fahrt auf – die AKP und die oppositionelle kemalistische CHP hatten versprochen, die Zahlen der Geflüchteten zu reduzieren. Nach dem Sturz Assads sprach Außenminister Hakan Fidan (AKP) davon, dass in Syrien ein neues Kapitel begonnen habe. „Wir werden alles tun, um die sichere und freiwillige Rückkehr der Syrer zu gewährleisten“, sagte er. Der Leiter des Forschungsinstituts für Migrationsfragen in Ankara (IGAM), Metin Çorabatır, sagte der Deutschen Welle, die Rückführung bräuchte ein Jahr Vorbereitung.

Für die Menschen im Camp in Kırıkhan sorgt diese Lage für große Ungewissheit. Immerhin leben sie innerhalb des Orts – oder dem, was davon seit dem Erdbeben noch übrig ist. Ringsum zeichnen riesige Brachen die Stadt mit ehemals 120.000 Einwohnern. Die staatliche Wohnungsbaubehörde Toki stampft zwar auch in der Provinz Hatay neue Plattenbauten aus dem Boden. Doch nach Angaben der türkischen Statistikbehörde haben seit dem Erdbeben fast 150.000 Menschen die Provinz verlassen. Wer kann, geht.

Die Recherche fand im Rahmen einer von der e­uropäischen Katastrophenschutz-Direktion ­finanzierten Reise statt.

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7 Kommentare

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  • „ der restriktiven türkischen Migrationspolitik“

    Was genau ist denn bitte in der Türkei restriktiver als in Deutschland? All die beschriebenen Zustände, einschließlich der strikten Residenzpflicht, die Probleme, die damit einhergehen, nicht in einer anderen Stadt, in der man eher arbeiten könnte oder vielleicht Familie hat, leben zu dürfen, usw, all das ist doch in Deutschland ganz genauso!

    Ab davon erlaube ich mir mal zwei kleine inhaltliche Korrekturen:



    1. In der Türkei leben rund vier Millionen registrierte syrische Geflüchtete.



    Dazu kommen noch die mittlerweile eingebürgerten rund 250 000 Syrerinnen.



    2. Diese Zahl der Erdbebenopfer stimmt vorn und hinten nicht, sie ist sogar lächerlich, ein Hinweis darauf, dass das Erdogone s Zahlen sind, wäre gut gewesen und dass die tatsächliche Opferzahl in die Hundertausende geht ist, unbestritten. Und auch mit eigener Überschlagsrechnung, ebenfalls schnell erfasst, da, wenn man die Anzahl der zerstörten Gebäude zu Grunde legt, davon ausgeht, dass in jeder Wohnung ~4 Menschen gelebt haben, das Erdbeben in der Nacht geschah, als die Menschen zuhause waren+die Zahl der Vermissten, kriegt man eine Ahnung der echten Opferzahlen

  • Das zeigt wieder einmal wie problematisch die Versuche, eine Entwicklung von außen steuern, sein können. Auf der einen Seite möchten die EU und der 'alte' Westen Rechte von Frauen, Kindern ethnischen und religiösen Minderheiten geschützt und respektiert wissen, wenn aber ein Land wie die Türkei gebraucht wird um Flüchtingsströme zu reduzieren, macht man dann eben 'Realpolitik'. Dass dabei die eigenen Werte quasi per 'Kuhhandel' verkauft und verraten werden, mit Konsequenzen für den Ruf bei den betroffenen Personengruppen, scheint eine 'quantité négliable' also ehr von untergeordnter Bedeutung zu sein.

    • @Ein Unterfranke:

      Realpolitik versus Wertepolitik:

      Wenn die Grenzen für Schutzbedürftige geöffnet werden, wird man überrannt. Das kann nur "begrenzt" gutgehen und nur mit Realpolitik gehandelt werden.

  • Hat Erdowahn nicht auch Zig - Milliarden Euro von der EU bekommen, um die Versorgung dieser Flüchtlinge zu gewährleisten? Offensichtlich reicht das Geld nicht aus oder der Erdowahn - Clan lässt dieses Geld in die eigenen Taschen fließen.

    • @Karl Heinz:

      Nein, hat er nicht bekommen. Das Geld wurde zwar in Aussicht gestellt, aber nur ein kleiner Teil gezahlt. Außerdem bekommt nicht er das Geld, sondern die Institutionen, die die Geflüchteten-Arbeit direkt vor Ort leisten. Bitte genauer informieren, denn Erdogone bereichert sich selbst und seine Kinder hauptsächlich mit den Steuergeldern seiner Bürger, da ist er schon sehr gewissenhaft, keine Sorge.

    • @Karl Heinz:

      Mit dem Ende des Bürgerkriegs scheint es sinnvoller, Geld in den Wiederaufbau in Syrien zu stecken. Aber auch dort stellt sich die Frage, wem genau man Geld anvertrauen kann, damit es nicht in die Taschen einiger weniger korrupter Profiteure unter den neuen Machthabern fließt. Das traditionelle Dilemma jeglicher Entwicklungshilfe.

    • @Karl Heinz:

      Hm... anscheinend sind das ca. 1 Milliarde im Jahr... bei 3 millionen Flüchtlingen sind das 3-400 Euro pro Kopf und Jahr. Das ist keine so riesige Summe, das dadurch die Türkei komplett entlastet wäre.

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