Ladendiebstahl in Großbritannien: Große Aufregung um 5-Finger-Rabatt

In Großbritannien wird geklaut. Einzelhandelsunternehmen schieben es auf Kleptomanen und Drogenabhängige. Sie übersehen dabei die wahren Ursachen.

Eine Tafel Cadbury-Schokolade

Ist jetzt auch unter der Hand in britischen Pubs zu haben: Schokolade Foto: Kirsty Wigglesworth/ap

Was ich an London, wo ich gerade eine Zeit als Stipendiat eines Austauschprogramms verbringen darf, besonders mag, sind die Pubs. Als Wahlberliner schätze ich den Reiz verranzter Eckkneipen. Aber in die Pubs mit ihren holzverkleideten Wänden, urigen Theken und der heimeligen Wohnzimmeratmosphäre habe ich mich verliebt. In diesen Pubs könne man jetzt neben Bier auch Fleisch, Kaffee, Käse oder Schokolade kaufen, berichten englische Zeitungen, weil Ladendiebe dort ihre Beute weiterverkauften.

Als Pandemie hat Dame Sharon White, Chefin des Unternehmens John Lewis Partnership, das Kaufhäuser und Supermärkte betreibt, gegenwärtige Ladendiebstähle im Vereinigten Königreich genannt, über die gerade alle reden. Laut dem British Retail Consortium (BRC) soll sich deren Zahl in den vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt und bei 8 Millionen Fällen im Jahr 2022 einen Schaden von 953 Millionen Pfund angerichtet haben. Einzelhändler beklagen, dass die Polizei ihren Anzeigen nicht mehr nachgehe und sie den Dieben machtlos ausgeliefert seien.

Eine Gruppe von Einzelhandelsunternehmen hat deshalb beschlossen, eine Polizeioperation zu finanzieren: mit dem „Project Pegasus“, für das sie 600.000 Pfund zur Verfügung stellen, sollen Sicherheitskameras und andere Daten ausgewertet werden, um ein besseres Verständnis des Phänomens zu erlangen. Andere Zahlen relativieren die mediale Aufregung durch die Einzelhändler und zeigen, dass die Zahl der Ladendiebstähle lediglich wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht hat.

Die Polizei ist überlastet

Aber Zahlen und Fakten sind das eine. Das emotionalisierende Bild von Plünderungen durch Steak und Schokoladen raubende Banden das andere. Forderungen nach härteren Strafen überraschen deshalb nicht, angesichts einer scheinbar überforderten Polizei wirken sie aber ohnmächtig. Weil sich das Problem nicht einfach mit mehr Repression lösen lässt, macht das die Frage nach den Ursachen unumgänglich. Gelegenheit mache halt Diebe, heißt es da dann, zum Beispiel mit Verweis auf Selbstbedienungskassen oder zu wenig Sicherheitsvorkehrungen.

Dabei muss man echt kein Sherlock sein, um einen Zusammenhang zu erkennen, diesen einen riesigen, fetten, breiten Elefanten in der Supermarkthalle: Die Inflation lag im Vereinigten Königreich im August bei 6,7 Prozent, in der Eurozone dagegen bei 5,2 Prozent, womit die Briten G7-Inflationsmeister sind. Viel krasser ist der Unterschied bei Lebensmittelpreisen: In Deutschland lag die Teuerung im Juli bei beachtlichen 10,91 Prozent, im Vereinigten Königreich waren es sogar 14,9 Prozent.

Bei der sogenannten Ladendiebstahl-Pandemie seien organisierte Banden oder Wiederholungstäter mit Suchtkrankheiten zugange, heißt es in britischen Medienberichten immer wieder. Diese Beobachtung kann auf subtile Weise den Eindruck schaffen, dass es sich bei dem Phänomen also gar nicht um das Ergebnis steigender Lebenshaltungskosten und einer sozialen Krise handele. Es würden ja schließlich nicht Menschen klauen, die hungern und dursten, sondern Kriminelle und Drogensüchtige.

Ich frage mich dann aber: Welcher Mensch besorgt sich seine Lebensmittel nicht lieber entspannt im Supermarkt, sondern freiwillig unter der Hand in Pubs oder auf der Straße, so als würde er nicht Kaffee oder Käse, sondern Kokain kaufen?

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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