Labor überprüft Emotionen bei Gedichten: Weinen wegen krasser Reime
Was geschieht mit uns beim Lesen? Das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik versucht mit Fragebögen, Skalen und Tabellen Gefühle zu messen.
„Ich sperre Leute in einen Raum und warte darauf, dass sie weinen“, berichtet der Kommilitone: „Mit einem Gedicht“. Sein Arbeitgeber: das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. Mit Fragebögen, Zahlen, Skalen, Messungen und Tests erforschen hier etwa 50 Wissenschaftler*innen, was wir fühlen, wenn wir lesen, hören, sehen.
„Die Literaturwissenschaft, wie sie an den meisten Universitäten unterrichtet wird, hat bei der Erforschung solcher Fragen ihre Ambitionen weitgehend aufgegeben“, beklagt Winfried Menninghaus. „Sie beschränkt sich auf Inhalte, kulturelle Deutungen und so weiter.“ Der Literaturwissenschaftler ist das, was man gemeinhin eine Koryphäe seines Fachs nennt; er erhielt Rufe nach Yale und Princeton, nun ist er einer der drei Direktor*innen des Frankfurter Instituts. Mit seinen nach allen Seiten strebenden Haaren auf dem Kopf sieht er ein bisschen so aus, wie man sich eine menschgewordene „Simpsons“-Figur vorstellt.
„Ohne empirische Methoden kann man die Wirkung von Literatur auf Leser gar nicht wissenschaftlich untersuchen“, behauptet er, der 25 Jahre klassische „Hardcorekomparatistik“ an der Freien Universität Berlin betrieb. Menninghaus ist Vertreter eines Fachs, das bis vor Kurzem mit Mathe so viel am Hut hatte wie Houellebecq mit „Oral-B“.
Damit einher geht eine Zuwendung zu den Massen der nichtwissenschaftlichen, der „normalen Leser“, die er sich mit großen Studien ins Haus holt; „Literatur ist ja nicht nur für Germanisten und Komparatisten geschrieben worden“, scherzt Menninghaus.
Ein paar hübsche Psychotests
Das Labor ist leer, in das ich geführt werde. Die Studie mit dem schönen, nach Tablette klingenden Namen „LYLAB 6“ – „Wirkung poetischer Sprache auf die ästhetische Beurteilung und emotionale Reaktion“ – lockt an jenem Tag niemanden außer mir: optimale Bedingungen also für ein paar hübsche Psycho-Tests.
Man hat sich Mühe gegeben, im Testraum möglichst viele Ablenkungsfaktoren zu eliminieren; eigentlich bleiben da nur noch Computer an Tischen, durch Stellwände getrennt, wie in amerikanischen Filmen oder Offenbacher Internetknästen – und, problematischer, ich. Vier verschiedene Gedichte sollen mir in jeweils zwei Versionen – der ursprünglichen und einer veränderten – über Kopfhörer vorgespielt werden, je drei Mal. Ergibt insgesamt 24 – aber was war nochmal die Frage?
Winfried Menninghaus
„Experimentelle Modifikation“ nennt Menninghaus diese Methode: „Sie nehmen Sätze und schreiben die um. Gleicher Inhalt, aber einmal mit einem bestimmten Metrum, danach mit einem anderen; mit Reim, ohne Reim, mit Alliteration, ohne Alliteration. Dann können Sie den Unterschied zwischen den beiden verschiedenen kognitiven, emotionalen und physiologischen Reaktionen ziemlich sicher den Variablen der literarischen Texte zuordnen.“ Ist dem so? Und gibt es beim „Rewe“ noch Erdbeeren? Egal wie steril das Labor, solche Gedanken krieg’ ich nicht weg.
Die Erwartungen an das Institut sind alles andere als gering. Der Linguist und Mitinitiator Wolfgang Klein sagte 2013 der Zeitschrift bild der wissenschaft: „Wenn das Institut scheitern sollte, was ich nicht erwarte, dann scheitert es bei etwas Großem.“ Für die Geisteswissenschaften hat er nicht viel übrig: „Seit 2.500 Jahren reflektieren Denker und Philosophen über das Schöne. Weit gekommen sind sie nicht.“
Von Untersuchungen über die Gefühle beim Lesen von Texten oder Hören von Musik zur Nutzung der Erkenntnisse durch Industrie und Werbung ist es so weit nicht, aber das möchte Forscher Menninghaus nicht wahrhaben: „Ästhetik ist nicht die Lehre vom Machen. Wir werden nichts herausbringen, was jetzt zum Beispiel einem Autor ein Rezept bringt, den optimalen Roman zu schreiben. Ich glaube, es gibt da eine riesige Kluft zwischen dem Verstehen von Wahrnehmungen und der Reaktionen darauf und Anleitungen zum Herstellen guter Kunstwerke.“ Dabei nimmt die Lehre vom Schönen doch den schönen Schein der bunten Warenwelt nicht aus.
Die Hände nass, der Mund trocken
Zurück ins Labor: Es ist Montagnachmittag, Frankfurt-City; ich sitze da und höre Gedichte. Eins von 1819 mit Natur drin, zwei von 1890, eines über „Frieden“ und eines über die Stadt, und eins von 1907, irgendwas mit „große Weh“. Mehr als die Gedichte selber und ihre Entstehungsdaten wird nicht gesagt, um mich nicht in meinem Urteil zu beeinflussen, zum Beispiel durch große Autor*innennamen. Ich soll dazu nun Auskunft geben: Wie gut oder schlecht hat es mir gefallen? Wie freudig oder traurig bin ich gestimmt? Gab es große Unterschiede zwischen beiden Versionen?
Nun, so einfach geht das leider nicht. Denn statt Dichtung mit Dichtung oder wenigstens mit Geschwurbel zu beackern, wie mir das in der Schule beigebracht wurde, muss ich nun ankreuzen. Gefühle: 3 oder 4? Schön: zu 3/8 oder zu 4/7? Wie viel besser ist „ach so groß ist meine Weh“ als „unglaublich groß ist meine Weh“?
Wesentlich raffinierter werden die eingefügten Unterschiede auch nicht mehr. Aber gefällt mir das Original jetzt besser, weil es mir besser gefällt oder weil es das Original ist? Wie viel Prozent ist schön und wer bin ich überhaupt? Das Kreuz auf dem Fragebogen? Darauf lasse ich mich nicht festnageln.
Dann wird noch mein Gender abgefragt, mein Interesse an Literatur. Ist es nicht beliebig, anhand welcher Parameter man ein Testpublikum einordnet? Jürgen Kaube führt in der FAZ ad absurdum: „Man kann den Leuten die Verse morgens und abends vorlesen, im Freien oder am Kamin, mit einer hohen und einer tiefen Stimme, unter Zufuhr von Aperol Spritz oder Ingwertee.“ Ich habe Wasser getrunken – und muss jetzt aufs Klo.
Herausfiltern von Begleitumständen, Isolation von Faktoren: alles Illusion? Der Unsicherheitsfaktor Mensch – selbst in elektrisch abgeschirmten oder schallgeschützten Räumen – ist notwendiger Versuchsbestandteil, und das auf beiden Seiten. „Rauschen in den Daten“ nennt es Menninghaus, und es klingt irgendwie gleich harmloser.
Ästhetische Gefühle seien ganz alltäglich und besäßen einen enormen Einfluss auf den, der sie denkt, meint der Forscher: Der Puls geht rauf, die Hände nass, der Mund wird trocken. Menninghaus erklärt: „Eine erlebte ästhetische Erfahrung motiviert Sie dazu, denselben oder einen ähnlichen Stimulus noch mal aufzusuchen. Jeder kennt das von der Musik, deshalb hört man seine Lieblingssongs so häufig. Aber Literatur gilt irgendwie als das Sublimste, bei dem man rein intellektuell dabei ist. Deswegen wurde Sprache bisher in der Hinsicht kaum erforscht. Dabei sind Menschen auch hier für die feinen Nuancen empfindsam und reagieren oft sehr emotional auf sie, ohne es zu merken.“
Der Körper soll also Auskunft über das geben, was der Geist verwehrt. Anders als bei „LYLAB 6“ wird dabei dann verkabelt und vermessen. Hautleitwiderstand. Augenbewegungen. Blutdruck. Hirnströme. Aber ist da nicht eine Lücke zwischen Messwert und ästhetischer Empfindung? Ist ein Gefühl letztlich bloß der Ausschlag einer Amplitude, der dann in der Fachzeitschrift die Tabelle füllt? Wie viel sagen solche Daten aus? Wie viel Macht besitzt der Zufall? Ist Literatur messbar?
Bald sollen im sogenannten ArtLab auch Lesungen stattfinden, bei denen Menninghaus und seine Kolleg*innen dann die Reaktionen des Publikums messen. „Das ist kein Stochern im Nebel. Niemand glaubt ja, dass er 100 Prozent des Erlebens eines Individuums so vorhersagt“, erklärt der Wissenschaftler: „Die Statistik ist zufrieden, wenn sie das mit 30 Prozent einer Reaktion kann. Man erhält Patterns, die an bestimmten Stellen konvergieren, und hat dann einen stabilen Effekt – oder nicht.“
Adorno hätte gekotzt
Ich denke an den Versuch. Sollen etwa die Leute zu mehr als 30 Prozent nicht verrückt, also vorhersehbar sein? Und was, wenn die jetzt auch noch verschiedene Geschmäcker und Launen haben? „…/…“ Wie viel wirklich neue Erkenntnisse kommen auf diese Art überhaupt? Dass ich zum Beispiel bestimmte Gedichte lieber mag, wenn sie sich reimen: Das glaubte ich schon vorher zu wissen. Weiß ich es jetzt sicherer?
„Ich betrachte unsere Forschung als Ergänzung zur etablierten Literaturwissenschaft, nicht als Alternative“, beschwichtigt Menninghaus. Manche aus der Disziplin fürchteten, er wolle ihnen das Wasser abgraben, sie ablösen. „Sie verstehen nicht, was wir hier machen und denken, das sei Erbsenzählen und führe zu nichts“, bedauert er. Dabei stütze sich die empirische Ästhetik stark auf die traditionelle Theoriebildung. Es gehe ihm nicht darum, „alles zu quantifizieren“, nein, das müsse ein Missverständnis sein. „Wir wollen Qualitäten mit empirischen Methoden besser erforschen.“
Dennoch: Auf Dekonstruktion und Diskurs folgt Empirie. „Adorno hätte gekotzt“, sagt Schriftsteller Thomas Gsella in einem anderen Zusammenhang – und Derrida hätte geweint.
Denn Schönheit ist vergänglich, doch das Streben nach ihr nicht. Und das nach Wissen über sie ebenso wenig.
Beim Rausgehen sehe ich mein Spiegelbild im glänzenden Gebäudeboden. Schön finde ich es zu 84 Prozent.
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