LGBTQ-Community in der Ukraine: Eine Insel der Toleranz
Für viele LGBTQ-Personen ist Kiew ein Zufluchtsort. Besonders wenn sie ihre Heimat wegen Diskriminierung und Gewalt verlassen mussten.
„Bachmut ist eine Kleinstadt. Da spricht sich schnell herum, dass jemand schwul ist“, erzählt Tramwaj. Schon beim Betreten eines Busses oder eines Geschäftes besagten viele Blicke, dass man Bescheid weiß. Irgendwann aber hat er gar nicht mehr versucht, sein Schwulsein zu verstecken, sondern ging damit offensiv um. Tramwaj gründete die Gruppe „Donbass queer“, die Gesprächsrunden organisierte. Im Frühjahr letzten Jahres verbrannte die Gruppe öffentlichkeitswirksam eine Stoffpuppe mit dem Namen „Patriarchat“. Tramwaj gab Interviews, beteiligte sich an feministischen Märschen und Aktionen gegen häusliche Gewalt.
„Ausgerechnet meine besten Freunde haben mir nicht verziehen, dass ich mein Schwulsein öffentlich gemacht habe.“ Nach dem Outing hätten die Bedrohungen durch Unbekannte, aber auch durch ehemals beste Freunde zugenommen. Beim Betreten eines Geschäftes habe er immer aus den Augenwinkeln geprüft, ob ihm nicht wieder irgendwo jemand auflauerte. Mit der Coronakrise sei alles schlimmer geworden. Durch sie seien die Menschen aggressiver geworden. Und ihre Wut hätten sie an Angehörigen von Minderheiten ausgelassen. „Wir konnten keine Treffen mehr organisieren, jeder war auf sich gestellt.“, sagt Tramwaj.
Auch in Kiew wurde 2020 die Gay Parade wegen Coronamaßnahmen abgesagt. „Mir hatte das immer Zuversicht gegeben zu wissen, dass im fernen Kiew Tausende für die Rechte von LGBT auf die Straße gehen“ sagt Tramwaj. Irgendwann hielt er die Beschimpfungen und die Gewalt nicht mehr aus und zog nach Kiew.
Verständnislose Eltern, Cybermobbing und Arbeitslosigkeit
Kiew ist gerade für viele LGBTIQ so etwas wie eine Insel der Toleranz, selbst in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, weht schon ein ganz anderer Wind. Dort hatte, so erzählt es die Politologin Julia Bidenko der taz, die Partei des Präsidenten Selenski, die „Diener des Volkes“, bei den Wahlen im Oktober 2020 gerade mal sieben Prozent der Stimmen erhalten. „Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die Bürgermeisterwahlen im Oktober sind derzeit Michajlo Dopkin und der kommissarische Bürgermeister Ihor Terechow. Michajlo Dopkin ist dem prorussischen Lager zuzurechnen. Er hatte 2014 noch mit der russischen Fahne in der Hand demonstriert.“
Mit den Worten „Sie werden doch nicht Passanten auf dem Weg hierher nach dem LGBT-Community-Zentrum gefragt haben?“, begrüßt Anna Scharyhina, Chefin dieses Zentrums, ihre Besucher. Mehrfach, so Scharyhina, sei die Beratungsstelle für Angehörige sexueller Minderheiten von Rechtsradikalen überfallen worden. Die meisten Besucher kämen aus der Provinz und aus den sogenannten Volksrepubliken. Und dort sei die Stimmung noch homophober als in Charkiw.
Wer sich als trans Person um eine Wohnung bemüht, muss lange suchen, vor allem außerhalb der Metropolen. Doch mit der Coronakrise seien viele preisgünstige Wohnheime geschlossen worden. Wer seine Wohnung oder gar seinen Job verliere, müsse wieder zurück in den Ort, aus dem er oder sie nach Charkiw geflohen sei. Und dann komme alles wieder: verständnislose Eltern, gewalttätige Jugendliche, Cybermobbing, Arbeitslosigkeit und gehässige Blicke.
Aber auch wer es schafft, in der Großstadt zu bleiben, kann in Schwierigkeiten geraten. Gegenüber dem Radiosender „hromadske“ berichtet der trans Mann Olexander, er habe wegen mangelnder Aufträge in der Pandemie seine Wohnung aufgeben müssen und sei in ein preisgünstiges Wohnheim umgezogen. Doch dort wurde das Leben für ihn zu einem Albtraum. Immer wieder habe man ihm in der Gemeinschaftsdusche aufgelauert, ihm sogar mit Vergewaltigung gedroht.
Der Einfluss der Kirche
Erschwerend kommt hinzu, dass die Apotheken in der Coronazeit Lieferschwierigkeiten für ihre Hormonpräparate haben. In der Folge mussten einige von ihnen die Hormontherapie abbrechen.
Im Gegensatz zu ihren KollegInnen in Charkiw fühlen sich Anna Leonowa und Olena Hanich von der Gay Alliance in ihrem Büro in der Kiewer Innenstadt relativ sicher. Die Gay Alliance Ukraine ist eine der wichtigsten NGOs für LGBTIQ in der Ukraine. Sie betreibt im ganzen Land die Queer Homes, Kulturzentren für die Community. Auch sie bestätigen: die größten Probleme haben Angehörige sexueller Minderheiten vor allem in kleineren Städten. Und genau in diese müssen viele zurück, die aufgrund der Coronakrise ihre Arbeit verloren haben und sich deswegen eine Kiewer Wohnung nicht mehr leisten können.
Im 350.000 Einwohner großen Winniza, so berichten die beiden, seien drei Männern von ihrem Vermieter gekündigt worden, weil dieser in dem festen Glauben war, Homosexuelle würden Corona schneller verbreiten als Heterosexuelle. In dieses Bild fügt sich auch die Äußerung des 92-jährigen Bischofs Filaret Denyssenko im vergangenen Jahr ein, der in gleichgeschlechtlichen Ehen eine Ursache des Aufkommens des Coronavirus sah. Zwar ist Homosexualität in der Ukraine seit 1991 legal, doch eingetragene Partnerschaften und gleichgeschlechtliche Ehen gibt es nicht. Derartige Äußerungen eines langjährigen Patriarchen und derzeit Ehrenpatriarchen der Orthodoxen Kirche der Ukraine haben Auswirkungen auf die öffentliche Meinung, erklärt Anna Lytvynova, Juristin der NGO „Insight“, die sich um die trans Personen und Lesben kümmert. „Dass wir in Gegenden mit einem besonders großen Einfluss der Kirche nicht an die Öffentlichkeit gehen können, liegt auch an Äußerungen wie diesen“, so Lytwynowa.
Gerade unter Covid hätte, so Olena Hanich, die rechtsradikale Gruppierung „Tradition und Ordnung“ Zulauf unter Jugendlichen bekommen. Die Gruppe kämpft gegen Feminismus und sexuelle Minderheiten. Jedes Jahr organisiert die Gruppe Gegenveranstaltungen zu Frauendemonstrationen und LGBT-Märschen.
Auch wenn die Homofeindlichkeit in der Ukraine insbesondere in der Provinz hoch ist, ist der Staat immerhin bereit, LGBTIQ-Veranstaltungen durch die Polizei zu schützen. Davon kann die russische LGBT-Community nur träumen. Nicht nur in Tschetschenien, wo Homosexuelle um ihr Leben fürchten, ist die Stimmung in Russland feindlicher gegenüber sexuellen Minderheiten als in der Ukraine. In Russland nutzt man das Thema, um gegen den Nachbarn Stimmung zu machen. „Ukrainische Armee plant Entsendung von Gay-Bataillonen in den Donbass“, titelte der sensationslüsterne Moskowskij Komsomoletz im März. Anlass für diese Überschrift waren Einträge auf einer Facebook-Plattform von ukrainischen LGBT-Militärs, die sich über einen LGBT-freundlichen Zug eines Bataillons ausgetauscht hatten.
Und so zieht es viele Homosexuelle und trans Personen aus Russland in die Ukraine. Doch nicht alle sind deswegen in Sicherheit, sagt Schewtchenko von „Insight“ der taz. Derzeit betreue man eine Person, die aus Russland geflohen und mit einer Ukrainerin verheiratet sei. Doch diese Person wolle ihr Geschlecht angleichen lassen. „Da es in der Ukraine keine gleichgeschlechtlichen Ehen gibt, wird diese Ehe automatisch mit der Eintragung der Änderung des Geschlechts geschieden werden. Und damit wird die Aufenthaltsberechtigung für die russische Staatsbürgerin erlöschen.“ Müsste sie die Ukraine verlassen, könnte es gefährlich für sie werden.
Schenja Tramwaj ist froh, dass er auch in der Pandemie mit Kiew einen Ort für sich gefunden hat, an dem er gut leben kann. „Eigentlich gibt es schönere Orte zum Leben als Kiew, doch noch mal so etwas zu erleben wie in Bachmut, das könnte ich nicht ertragen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland