Kurznachrichtendienst Bluesky: Das große Hallo am blauen Himmel
Viele Twitter-Nutzer:innen wechseln zur neuen Plattform Bluesky. Dort geht es bisher deutlich gesitteter zu. Trotzdem braucht es kritische Distanz.
Es ist die aktuell wohl größte Fluchtbewegung im virtuellen Raum. Wer kann, macht rüber. Von X, ehemals Twitter, der Mutter aller Kurznachrichtendienste. Zu Bluesky, der bisher vielleicht besten Kopie.
Was genau den großen Austausch ausgelöst hat, ist unklar. Vielleicht war die offene Wahlempfehlung von X-Chef Elon Musk für die AfD, die bei vielen das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Jedenfalls tauchen seit einigen Tagen reihenweise Menschen, die prominent in der deutschsprachigen X-Bubble waren oder sind, nun bei Bluesky auf. Und wer schon dort ist, registriert seit Tagen stark steigende Followerzahlen.
Als Musk Twitter vor fast einem Jahr gekauft hat, flogen etliche Early Birds rüber zu Mastodon. Diese schon vor Jahren gegründete, dezentral organisierte Plattform galt vielen als bester Ersatz. Die Zahl der User verdreifachte sich binnen eines Jahres von weniger als 5 auf heute über 14 Millionen. Weil aber gewohnte Tools fehlten und die Diskussionskultur als etwas staubig empfunden wird, wurde Mastodon nie den Ruf der Plattform für Nerds los.
Bluesky hat dagegen einen entscheidenden Vorteil. Es sieht aus wie X, ist sogar ein Ableger des Unternehmens – aus Vor-Musk-Zeiten. Der damalige Twitter-CEO Jack Dorsey hatte den Start des Spin-offs 2019 verkündet. Im Februar dieses Jahres startet die Beta-Version mit wenigen hundert ausgesuchten Nutzer:innen. Im September wurde nach eigenen Angaben die Millionen-User-Schwelle überschritten. Und sie steigt weiter.
Altbekanntes Design
Noch ist Bluesky verhältnismäßig klein. Zudem fehlt die Möglichkeit, Direktnachrichten zu versenden oder Posts in Listen zu sortieren. Dennoch trendet dort seit Tagen das große Hallo. Man freut sich, dass man da ist. Begrüßt alte Freund:innen, die man lange nicht gesehen hat. Hilft Neusteiger:innen auf die Sprünge.
„Hallo, Menschen auf BlueSky“, schrieb zum Beispiel die österreichische Politikwissenschaftlerin, Kolumnisten und Posterin Natscha Strobl am Montag. Und freute sich kaum eine halbe Stunde später: „Ihr seid so lieb. Ich wurde noch (null) Mal beschimpft oder für eine Regierungskrise verantwortlich gemacht.“ Was die zwei wichtigsten Phänomene verdeutlicht: Die alte Social-Media-Selbstironie hat hier Platz. Denn die rechten Trolle fehlen. Zumindest noch.
„BlueSky ist ein bisschen wie Einschulung im neuen Gymnasium. Neue Klasse, viele alte und paar neue Freunde, einige aus dem Kindergarten sind plötzlich wieder da. Dafür sind ein paar Raufbolde (sagt man das noch so?) ganz weit weg“, schreibt der Anwalt Chan-Jo Jun und kündigt an, seine Tweets bei Twitter zu löschen. Dort hatte er fast 100.000 Follower.
Keine rechten Trolle
Das Fehlen der rechten Trolle liegt auch an der exklusiven Zugangsregel, die Bluesky noch vorhält. Rein kommt man erst nach wochenlanger Wartezeit – oder waren es gar Monate? Oder wenn man einen Einladungscode hat. Den dürfen Schon-User:innen an ihnen genehme andere in kleinen Dosen weitergeben. Kritiker:innen gilt Bluesky daher als elitärer Club. Die Firma will mit der Zugangsbeschränkung nicht nur einen organischen Aufbau sichern, sondern Spammer und „Bad User“, die versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren, raushalten. Also Musk. Trump. AfD-Trolle. Putin-Spam.
Aktuell scheint das zu funktionieren. Zwar entspannen sich schon heftige Diskussionen darüber, ob Mastodon nicht doch besser oder zumindest unverzichtbarer wäre, ob das mit Bluesky nicht auch nur ein Hype ist und ob es wirklich von Vorteil ist, dass man bisher noch nicht mit extrem anders Denkenden debattieren kann. Oder muss. Aber man bleibt höflich.
Selbst der Bundestag ist schon da. Und dessen Social-Media-Verantwortlicher kann freundlich nach Support fragen, ohne gleich von einem gehässigen Mob verspottet zu werden.
Kurz gesagt. Es ist herrlich entspannt. Anziehend. So anziehend, dass #Bluesky und #Himmel seit Tagen sogar beim ollen X, ehemals Twitter trenden. Und #Code. Weil viele nach begehrten Einlasscodes fragen. Bei Ebay werden sie sogar für 10 Euro angeboten.
Mittlerweile sind auch erste Politiker:innen da. Saskia Esken zum Beispiel. Die SPD-Vorsitzende, die sich wegen Musk vor einem Jahr bei Twitter verabschiedete, steht seit 4 Tagen bei Bluesky so sehr Rede und Antwort, dass man sich fragt, ob sie sonst noch zu was kommt. Offensichtlich hat sie was vermisst.
Auch erste Medien sind aktiv. Die taz zwitschert im Himmel. Von der Tagesschau gibt es immerhin einen inoffiziellen Nachrichten-Bot. Und die Süddeutsche …, nein halt. Das war ein Fake. Gestartet, um zu zeigen, dass man gerade bei neuen Plattformen vor allem eins bewahren sollte: kritische Distanz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern