Twitter-Alternative Mastodon: Auf einem anderen Planeten

Nach der Twitter-Übernahme von Elon Musk gibt es eine starke User*innen-Wanderung zu Mastodon. Gehört dem Social-Media-Dienst die Zukunft?

Bunte Seile, die ineinander verknotet sind

Verknotet sein ist heute alles, was zählt Foto: Richard Drury/getty images

Seit dem Twitter-Kauf durch den Superreichen Elon Musk wird in Deutschland vor allem ein Zufluchtsort gehypt: Mastodon. Der Mikroblogging-Dienst, der bereits 2016 vom Jenaer Entwickler Eugen Rochko gegründet wurde, verzeichnete laut eigenen Angaben einen Anstieg der Nut­ze­r*in­nen­zah­len um eine Millionen Use­r*in­nen in den ersten zwei Wochen nach Musks Übernahme. Die Anzahl der aktiven Use­r*in­nen hat am 19. November die zwei Millionen Marke geknackt – und liegt jetzt mehr als drei mal so hoch wie vor der Welle.

Zwar sieht Mastodon ähnlich aus wie Twitter, ein Ersatz ist es aber noch lange nicht. Der Mastodon-User und Bibliothekar Hugh fasst den Unterschied auf seinem Blog so zusammen: „In den späten 1990ern gab es in Hobart (Australien) drei Clubs. Sie alle waren unterschiedlich schäbig, unterschiedlich laut und Menschen gingen dort hin, weil andere Menschen dort hin gingen – um Spaß zu haben, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und ihren sozialen Status zu behaupten. Das ist Twitter. Ich hatte einen Freund, der in einer WG um die Ecke eines dieser beliebten Clubs lebte. An den Wochenenden gab er Partys. Klein, nur für Freun­d*in­nen und ein paar wenige ihrer Freund*innen. Das ist das Fediverse.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Das Ziel des Unternehmens Twitter ist das gleiche wie das anderer Social-Media-Unternehmen: Daten sammeln, um mit ihnen Geld zu machen. Für viele Use­r*in­nen geht es um Sichtbarkeit und darum, sich selbst zu vermarkten. Bei Mastodon hingegen geht es um Kommunikation: Use­r*in­nen verstehen das sogenannte Fediverse, zu dem Mastodon gehört, als Gegenentwurf zu kommerziellen Social-Media-Diensten. Mastodon macht keinen Gewinn. Es wird nicht von einer Person oder einem Unternehmen geführt und unterliegt nicht deren Launen. Mastodon ist dezentral, eine Open-Source-Plattform und kann nicht komplett verkauft oder geschlossen werden.

Hinter dem Fediverse, das seit 2008 existiert und wächst, steckt das Konzept, dass Internetdienste nicht zentral über ein einziges Unternehmen wie Twitter oder Facebook laufen sollen, sondern auf vielen verschiedenen Servern unterschiedlicher Personen. Im Fediverse wird nicht nur die Twitter-Alternative Mastodon betrieben, sondern auch Alternativen zu Youtube (Peertube), Instagram (Pixelfed), diverses, das an Facebook erinnert, teilweise aber thematischen Zuschnitt hat (BookWyrm) oder Soundcloud (Funkwhale). All diese Dienste sind eigenständig, wollen aber miteinander kompatibel sein. Eine Nachricht, die ich bei Mastodon lese, kann auf einem komplett anderen Dienst verfasst worden sein. Als würden in meinem Twitter-Feed Nachrichten auftauchen, die auf Instagram verfasst wurden, Videos von YouTube, Kommentare von TikTok.

„Jede Plattform hat so angefangen, sich dann aber zu einer Plattform der Wichtigtuerei entwickelt“.

Peertube ist fast wie YouTube, nur viel viel kleiner und ruhiger und ja: call it nischig. Dort gibt es ein kleines niedliches Video: Eine Katze und ein Hund wollen miteinander telefonieren. Klar, das geht, erklärt die Stimme aus dem Off. Und zwar ohne dass sie den gleichen Telefonanbieter hätten. „Federation“ nennt die Stimme das. Niemand muss mehrere Anbieter haben, kein Anbieter bekommt ein Monopol. Und dann geht das Video ins Große: Die Katze und der Hund sind auf dem gleichen Planeten. Dieser symbolisiert eine einzelne Social-Media-Plattform. Auf anderen Planeten sind andere Tiere. Auch mit denen möchten Hund und Katze Kontakt aufnehmen. Das Fediverse (oder auch Federated Universe) will genau diese Kommunikationsmöglichkeit sein.

Aber zurück zu Mastodon. Die Server dieses Dienstes werden von vielen Einzelpersonen und Gruppen betrieben und betreut. Sie werden Instanzen genannt und wer sich auf Mastdon rumtreiben will, muss sich bei der Registrierung für eine Instanz entscheiden. Manche dieser Instanzen haben ein bestimmtes Interessengebiet, das die Teilnehmenden teilen, sind regional oder bieten Schutzräume etwa für LGBT*QI. Die Instanzen sichern auch, dass die Last des Dienstes auf vielen verschiedenen Schultern ruht. Eine Website, die einen Überblick über die Instanzen geben will, zählt gerade über 4.200 solcher Instanzen. Sie stellen nicht nur die technischen Voraussetzungen zur Verfügung, sondern kümmern sich auch um die Durchsetzung eigener Regeln. Inhalte, die gegen die Regeln der Instanz verstoßen, kann man direkt an die eigene Instanz melden. Es kann auch zu Sanktionen kommen. Die gehen mitunter sogar so weit, dass ganze Instanzen den Kontakt zu anderen Instanzen abbrechen, etwa zu jenen, auf denen rechte und hetzerische Inhalte geteilt werden. Denn auch die gibt es.

Wolfang Schweiger ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim. In die Zukunft von Mastodon hat er wenig Vertrauen. Es sei ein wichtiges Netzwerk für „Nerds und Gemeinschaftsutopisten“, sagt er. „Ich bin nur als Sozialwissenschaftler etwas skeptisch.“ Er zweifelt daran, ob die Inhalte genügend Kontrolle und Regulierung erfahren werden, wenn die Gemeinschaft immer weiter wächst. „Sobald dort die großen Mengen rüberwandern, kommen auch entsprechend Menschen, die mit Hate-Speech agieren, die mit Lügen agieren. Wie auch auf den anderen Plattformen“, sagt er.

Der Zustrom von neuen Nut­ze­r*in­nen stellt jene, die seit Jahren auf Mastodon unterwegs sind, vor neue Herausforderungen. Die Server haben Wachstumsschmerzen, zeitweise waren einige Instanzen down oder nahmen keine neuen Use­r*in­nen mehr auf, weil sie an ihre technischen Grenzen stießen.

Hinzu kommen kulturelle Konflikte. Bibliothekar Hugh betreibt seit vier Jahren einen Server. Er schreibt, er sei erschüttert von der aktuellen Entwicklung. „Dabei ist es doch eigentlich das, was wir wollten.“ Er beschreibt die Situation als für ihn „traumatisch“. „Als würde ich mit ein paar Freunden in einem ruhigen Zugwaggon quatschen und dann steigt ein Bahnsteig voller Fußballfans zu, nachdem ihr Team verloren hat. Sie fahren normalerweise nicht Zug und sie kennen die Etikette nicht. Sie gehen davon aus, dass je­de*r im Zug beim Spiel war oder zumindest Fußball verfolgt. Sie blockieren die Türen und beschweren sich über die Sitze.“

Dabei hätten nicht nur ehemalige Twitter-User*innen Schuld. Sie hätten gelernt, sich so zu verhalten. Denn viele nutzen Twitter, um eine möglichst große Reichweite zu erlangen, viele Likes zu bekommen, oft retweetet zu werden. Der Algorithmus bei Twitter belohnt Verhalten im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie. Bei Mastodon ist das anders. Die Selbstdarstellung, das Performative gerät allein schon durch die chronologische Timeline-Struktur in den Hintergrund. Im Vordergrund steht Austausch. Likes bringen nicht mehr Aufmerksamkeit, nur Boosts, das Äquivalent der Retweets. Und die sind je nach Timeline schon nach wenigen Sekunden wieder weiter unten.

Dass das bei Mastodon so weit vom Performativen entfernt bleibt, daran glaubt Kommunikationsprofessor Schweiger aber nicht: „Im Prinzip hat doch jede Plattform so angefangen, sich dann aber entwickelt zu einer Plattform der Wichtigtuerei des Impression-Managements. Warum sollte das bei Mastodon anders laufen?“

Langjährige Mastodon-User*innen reagieren jedoch auch positiv auf die Neuzugänge. Geduldig erklären sie ihnen technische Aspekte und welche Etiketten es hier gibt. Ein User schreibt, der „Orkan“ an Neuen wäre zwar anstrengend, aber auch: „Ich versuche so viele wie möglich freundlich zu begrüßen.“ Manche organisieren sich in Mentorengruppen, in denen die Neuen Fragen stellen können, ohne sich dabei allzu dumm zu fühlen. Ein anderer User findet die Entwicklung positiv, „weil so viele interessante Leute dazustoßen, vor allem Experten, Wissenschaftler, kompetente Journalisten (nicht Talkshow-Schwafelselbstdarsteller, sondern welche, die wirklich was wissen)“. Er verteilt bereitwillig Listen mit wichtigen Accounts, die für spezielle Bereiche interessant sein könten. Hilfsbereitschaft und Zugewandtheit, das kann Mastodon.

Das Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Social-Media-Diensten im Fediverse ist grundlegend. Es besteht die Sorge, dass Mastodon dieses Prinzip aus dem Gleichgewicht bringt und im Vergleich zu den anderen Diensten zu groß wird. Doch das muss nicht sein. Schweiger glaubt nicht, dass genügend Menschen auf Mastodon wechseln, um es zu einer Plattform von übergreifender gesellschaftlicher Relevanz zu machen. Bisher handele es sich um eine „Protestbewegung der Berliner Twitter-Blase“, also Politiker*innen, Journalist*innen, Meinungsmacher*innen. Er nennt sie „Kommunikationsprofis“. In nächster Zeit würden sich erste Problemfälle zeigen, Instanzen würden sich vermutlich abkoppeln und ein riesiges Durcheinander entstehen. In etwa einem Jahr sei Mastodon nur noch ein Ort für Nerds.

Vielleicht. Vielleicht wird Mastodon aber auch der Superplanet im Fediverse-Universum. Dann bleibt die Frage, wie seine stärkere Anziehungskraft die Verhältnisse der Schwerelosigkeit der anderen Planeten verändert.

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