Kurdisch-Deutsche Regisseurin: Im Theater ist alles möglich
In Diyarbakır hat Mizgin Bilmen „Jîn – Jinên Azad“ inszeniert. Es ist ein radikal-poetisches Stück über Widerstand und Stärke kurdischer Frauen.

Noch vor wenigen Tagen saß Mizgin Bilmen hier bei den Proben, ganz vorne im roten Samtsessel des Stadttheaters Diyarbakır. Mit wachem Blick verfolgt sie das Geschehen auf der Bühne, nickt, springt auf, geht nach vorne, setzt sich zwischen die Schauspielerinnen oder steigt selbst auf die Bretter. Sie ist keine Regisseurin, die sich distanziert an den Rand zurückzieht. „Theater ist ein Prozess“, sagt sie. Und in diesem Prozess ist sie nicht Beobachterin, sondern Teil.
Seit dem 1. September ist „Jîn– Jinên Azad“ („Die Frauen der Freiheit“) nun auf dieser Bühne zu sehen. Diyarbakır, von den Kurden Amed genannt, liegt im Südosten der Türkei. Für Bilmen ist es mehr als ein Aufführungsort. Es ist ein Raum, in dem Sprache und Körper Widerstand werden dürfen, ein Ort, an dem das Kurdische, so lange verdrängt und kriminalisiert, auf einer Bühne lebendig wird.
Dabei begegnen den Zuschauerinnen und Zuschauern sieben Frauen, die ihre Körper, ihre Stimmen, ihre Erinnerungen in ein gemeinsames Ritual verwandeln. Steine werden getragen, gestapelt, fallen gelassen – sie sind Last und Waffe zugleich, Zeichen für Widerstand und für Erinnerung.
Zwischen Gesang, Sprechchören und Tanz entstehen Bilder von Stärke, Trauer und Aufbegehren. Die Performerinnen zitieren Stimmen der kurdischen Geschichte, die Worte Leyla Zanas, der ersten kurdischen Politikerin, die im türkischen Parlament war und 1995 aus dem Gefängnis an ihre Kinder schrieb, oder die Newroz-Botschaft Abdullah Öcalans von 2013.
„Jîn – Jinên Azad“ erzählt nicht linear, sondern in Atmosphären. Es ist ein Strom von Bewegungen, Schreien, Liedern, Unterbrechungen. Mal tanzen die Frauen im Kreis, verlieren den Rhythmus und finden ihn wieder, mal brechen sie in kollektive Gesten aus, mal sprechen sie klar und laut, dann wieder flüsternd, fast unsichtbar. Die Choreografie von Berivan Sevgat verbindet kurdische Folklore mit zeitgenössischer Körperarbeit, beeinflusst von Pina Bausch.
Tochter eines Gastarbeiters
Im Jahr 1983 in Duisburg geboren, wuchs Bilmen in einer Familie auf, die vom Migrationsversprechen der 1970er geprägt war. Der Vater kam als Gastarbeiter nach Deutschland, eigentlich mit dem Plan, irgendwann zurückzukehren. Doch er blieb, so wie viele auch.
Bilmen wächst zwischen zwei Welten auf: Kurdisch zu Hause, Deutsch auf der Straße. An die Sommerreisen nach Kurdistan erinnert sie sich bis heute. Noch bevor es in Diyarbakır einen Flughafen gab, fuhren sie zwei Tage mit dem Bus von Istanbul nach Mardin.
Es gab immer eine unsichtbare Grenze innerhalb der Türkei, ab einem gewissen Punkt war man nicht sicher. Irgendwann kam auf dieser Strecke immer der Satz ihrer Mutter: „Ab jetzt redet ihr nur noch Deutsch.“ Für Bilmen wurde Kurdisch so zur verbotenen Sprache – kriminalisiert schon im Akt, sie überhaupt zu sprechen. „Das war eines der größten Materialien, um Künstlerin zu werden“, sagt sie.
Politische Themen verarbeiten
Bilmen erzählt, dass sie erst spät den Weg zur Regie fand – eigentlich hatte sie zunächst Lehramt studiert. Doch das Theater zog sie immer stärker an, nicht zuletzt durch ihre eigenen Erfahrungen, durch die Fragen und die Wut, die sie in sich trug. Wie konnte sie all das verarbeiten – die politischen Themen, den Wunsch nach Widerstand aus der Diaspora heraus?
Auf der Suche nach einem Ort für diese Gefühle erkannte sie, dass gerade das Theater diesen Raum bietet: einen geschützten Ort, in dem alles möglich ist. „Auf der Bühne“, sagt sie, „kann man alles sein – und zugleich nichts.“ Während sie das ausspricht, nickt sie leicht, als bestätige sie sich selbst noch einmal.
Dann konzentriert sie sich wieder auf das Geschehen auf der Bühne und unterbricht das Spiel. Mit fester Stimme ruft sie auf Kurdisch: „Gelekî spas!“ – „Vielen Dank.“ Für einen Moment hält alles inne. Die Schauspielerinnen schauen irritiert, senken die Köpfe, verlassen zögerlich die Bühne.
Bilmen selbst aber tritt nach vorne, schiebt sich in den leeren Raum, bewegt sich, zeigt, was sie meint. Sie erklärt nicht mit Worten, sondern mit Gesten, mit Rhythmus, mit Haltung. In diesem Moment wirkt sie streng, fast unnachgiebig – doch hinter der Strenge liegt ein Impuls, der zutiefst einladend ist: der Wunsch, gemeinsam eine Sprache auf der Bühne zu finden, die nicht nur gesprochen, sondern gelebt wird.
Erfahrungen in Dortmund und Darmstadt
Doch so leicht, wie Bilmen heute über ihre Arbeit spricht, war ihr Weg nicht immer. Rückschläge habe es viele gegeben, sagt sie, und ihre Stimme wird leiser, fast gesenkt, als sie von ihrer Erfahrung in Dortmund erzählt. Theater – das könne im besten Fall Räume öffnen, dort aber, erinnert sie sich, habe es das Gegenteil getan. „Das war für mich künstlerisch ein traumatisches Erlebnis“, sagt sie. „Es wurden Denkverbote ausgesprochen, und das unter dem Deckmantel von Feminismus und progressivem Gedankengut.“
Für Bilmen war das ernüchternd. Sie zieht einen drastischen Vergleich: „Es erinnert mich an Beyoncé – eine Frau, die für ihre Community als Symbolfigur gilt, während sie gleichzeitig ihre Tänzerinnen ausbeutet.“ Sie weiß, dass nicht jeder das gut finden wird. Trotzdem sagt sie es, fast beiläufig und spricht weiter: „Alle begnügen sich damit, dass ‚Feminist‘ auf der Bühne steht. In Dortmund war es ähnlich – nur mit weniger Talent und noch weniger Humor.“
Sie hält inne, bevor sie von einer weiteren Station erzählt – Darmstadt. Dort sei es das genaue Gegenteil gewesen: keine Denkverbote, sondern eine andere Form von Einschränkung. „Kunst wird dort verwaltet wie in einem Stempelkartensystem. Man muss sich für seine Arbeit rechtfertigen, nicht weil sie schlecht ist, sondern weil man nicht aus einer privilegierten Blase stammt. Auch das ist eine Form von Zensur.“
Hospitanz bei Roberto Ciulli
Und dennoch: Auch wenn manche Erfahrungen sie für zwei Jahre vom Theater fernhielten, war ihr politischer Wille stärker. Er trug sie zurück auf die Bühne – inspiriert von den Stimmen, die sie bis heute begleiten. Ihre erste prägende Erfahrung machte sie während einer Hospitanz bei Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr. Dort begriff sie, wie Theater inklusiv gedacht werden kann – nicht als pädagogisches Projekt, sondern als Raum, der Menschen auf Augenhöhe zusammenführt.
Von Heiner Müller lernte sie, das Politische des eigenen Lebens zum künstlerischen Material zu machen. Von Pina Bausch übernahm sie die Haltung: „Es geht nicht darum, wie man sich bewegt, sondern was einen bewegt.“
Jürgen Gosch, dessen Arbeiten sie studierte, und Frank Castorf mit seinen wilden Volksbühnenabenden zeigten ihr, dass Theater Menschen unmittelbar berühren kann – ganz gleich, ob sie Vorwissen mitbringen oder nicht.
Aus all diesen Begegnungen, aus all diesen Stimmen hat Mizgin Bilmen ihre eigene Sprache destilliert: Es ist eine Regiehandschrift, die analytisch ist und zugleich von Leidenschaft vibriert, die kompromisslos nach vorne drängt und dabei immer den Körper mitdenkt. Eine Handschrift, die nicht theoretisch bleibt, sondern nach Ausdruck auf der Bühne verlangt. Aus Verletzungen wurde Haltung, aus Begegnungen eine Sprache, die den Körper ebenso ernst nimmt wie das Wort.
Hommage an die Frauen
„Jîn – Jinên Azad“ ist für sie deshalb weit mehr als eine Inszenierung. Es ist ein Manifest – und zugleich eine Hommage an die Frauen in der kurdischen Gesellschaft, die gelernt haben, sich selbst zu ermächtigen, nicht Opfer ihrer Biografie oder einer politischen Lage zu bleiben, sondern aufzustehen, Widerstand zu leisten, selbstbestimmt zu sein.
„Für mich war es wichtig zu zeigen, dass diese Frauen nicht auf ihre Wunden reduziert sind“, sagt Bilmen. „Sie können tanzen, sie können lachen, sie können kämpfen – und sie bestimmen selbst, welche Geschichte erzählt wird.“
Eines der Bilder, das Bilmen seit Jahren begleitet, ist die Aufforderung des Dramaturgen Carl Hegemann: „Erobert euer Grab!“ Für sie war das zunächst eine Frage nach künstlerischer Selbstermächtigung. Heute bedeutet es mehr. „Wenn ich sage, wir erobern das Grab, dann meine ich: Wir nehmen uns unsere Geschichte zurück“, sagt sie. „Wir trauern nicht nur, wir holen uns das Leben zurück – im Tanz, in der Kunst, im Aufbegehren.“
Kurdisch auf der Bühne
Für Mizgin Bilmen bedeutet es eine besondere Rückkehr, dieses Stück hier zu zeigen – im Stadttheater, im Herzen des kurdischen Südostens, auf einer Bühne, auf der ihre Muttersprache bislang kaum selbstverständlich war. „Diese Sprache im öffentlichen Raum und dann auch noch in Kombination mit Kunst zu verwenden, ist schon ein großer Akt des Widerstands“, sagt sie.
Es ist ein Satz, der ihre Arbeit bündelt: Sprache als Waffe, Körper als Resonanzraum, Theater als Ort der Selbstermächtigung. Und ihr Wunsch für die Zukunft und das Stück? Da gibt sie die Hoffnung nicht auf, sagt sie. Nimmt sich eine Zigarette aus der Packung zündet sie an, und einen Schluck von ihrem Getränk – Mischung aus Bier und Fanta. „Ich habe eine Vorliebe für Alkopops“, erwähnt sie nebenbei und lacht.
Für Bilmen ist es wichtig, auf der Bühne kämpferisch und zugleich verletzlich zu sein, und „Theater“, sagt sie, „ist ein Ort, an dem wir uns die Freiheit vorstellen können, die wir draußen nicht haben“. Und während sie sich in Diyarbakır – in Amed – mit „Jîn – Jinên Azad“ auf die Stimmen der Frauen einlässt, bleibt dieser Satz wie ein Versprechen im Raum: dass Kunst nicht nur Abbild, sondern eine Waffe der Hoffnung ist.
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