Kurdenkonferenz im Spätsommer: Kommt da ein Großkurdistan?
Kurden aus vier Ländern bereiten eine große Konferenz vor. Die Türkei argwöhnt, dass es ihnen dabei um einen eigenen Staat geht.
ISTANBUL taz | „Ist ein Großkurdistan realistisch?“ Diese Frage wurde am Donnerstag nicht von einem kurdischen Politiker gestellt, sondern in der Zeitung Zaman von dem der Regierung nahestehenden Kolumnisten Etyen Mahcupyan. Der Anlass ist eine große kurdische Konferenz in Erbil, der Hauptstadt des kurdischen Autonomiegebietes, im August oder September. Zur Vorbereitung trafen sich diese Woche Vertreter von 39 kurdischen Parteien aus dem Irak und Iran, Syrien und der Türkei.
Massud Barsani, Präsident der Autonomieregierung, sagte während dieses Treffens: „Wir werden der Welt bald sagen, in welchem Status die Kurden im Nahen Osten leben wollen.“ Wie zur Beruhigung der Regierungen in den beteiligten Ländern versicherte er aber auch: „Die Zeit der bewaffneten Kämpfe ist vorbei. Die Waffen der Kurden sind heute Dialog und Demokratie.“
Zumindestens in Ankara hat diese Versicherung bislang nicht dafür gesorgt, die Gemüter zu beruhigen. Grund dafür ist nicht nur die bevorstehende Kurdenkonferenz, die nach jahrelangen vergeblichen Anläufen nun stattfindet, sondern vor allem die militärische Stärke der Kurden entlang der syrischen Grenze. Ende letzter Woche hatte der bewaffnete Arm der syrisch-kurdischen Partei DYP in heftigen Kämpfen gegen die islamistische Al-Nusra-Front zwei wichtige Grenzstädte unmittelbar entlang der türkischen Provinz Urfa unter ihre Kontrolle gebracht und die Oberhoheit in einem größeren Gebiet in Nordsyrien übernommen. Die DYP ist ein Ableger der kurdischen PKK aus der Türkei.
Als Gerüchte aufkamen, die syrischen Kurden würden in diesem Gebiet formell eine autonome Zone ausrufen, schien es in Ankara zunächst, als hätte es eine Friedensinitiative mit der kurdischen PKK nie gegeben. „Wir werden kein kurdisches Autonomiegebiet in Syrien dulden“, erklärte Ministerpräsident Tayyip Erdogan nach einer eilig einberufenen Krisensitzung. Devlet Bahceli, Chef der ultranationalistischen MHP, forderte gar einen Einmarsch türkischer Truppen.
De-facto-Staaten in Irak und Syrien?
So weit wird es wohl nicht kommen, aber auch Außenminister Ahmet Davutoglu warnte die Kurden, nicht vollendete Tatsachen zu schaffen. Der Status der syrischen Regionen müsse in einem zukünftigen Verfassungsprozess festgelegt werden, jede einseitige Erklärung zum jetzigen Zeitpunkt sei Gift für die Situation in Syrien. Erdogan und Davutoglu stehen vor einer komplizierten außenpolitischen Situation. Allen kurdischen Dementis zum Trotz sind die meisten Türken davon überzeugt, dass das letzte Ziel kurdischer Politik ein eigener, möglichst großer Staat ist.
Auch wenn der eingangs zitierte Etyen Mahcupyan in seiner Analyse zu dem Schluss kommt, ein Großkurdistan sei schon wegen der Zerstrittenheit unter den Kurden nicht realistisch, sind doch die äußeren Umstände für die Kurden so günstig wie nie. Die Integrität des Irak und Syriens existiert praktisch nicht mehr. Das Autonomiegebiet im Nordirak ist bereits ein De-facto-Staat, und auch in Syrien gibt es praktisch niemanden mehr, der die Kurden daran hindern kann, sich aus dem Chaos des Bürgerkriegs in eine eigene autonome Zone zurückzuziehen, die mit den Kurden im Nordirak kooperiert.
In Ankara reagiert man darauf zunächst mit der seit Jahrzehnten bekannten Rhetorik, doch das könnte sich schnell ändern. Der Schlüssel dazu sind die weiteren Verhandlungen mit der PKK. Denn neben Barsani, das wurde auch auf der Konferenz in Arbil noch einmal klar, ist die PKK längst der wichtigste Faktor im kurdischen Politpoker, nicht nur in der Türkei, sondern auch in den angrenzenden Ländern.
Ausdrücklich nannte Barsani PKK-Chef Abdullah Öcalan als wichtigen kurdischen Führer, von dem er sich wünschen würde, er könne in Freiheit an der großen kurdischen Konferenz teilnehmen. Diese Referenz erfolgte nicht ohne Grund. In Syrien haben sich nicht die mit Barsani verbündeten Kurden, sondern die Truppen der PKK durchgesetzt. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil die Kämpfer der PKK, die sich in den letzten Wochen im Rahmen des Friedensprozesses aus der Türkei zurückgezogen haben, nicht etwa in Lagern im Nordirak gelandet sind, sondern nach Syrien marschierten.
Die Zeit arbeitet für sie
Die neue Stärke der PKK in Syrien ist deshalb für die türkische Regierung ein zusätzlicher Grund, den Friedensprozess voranzutreiben. Nach Monaten, in denen von Regierungsseite praktisch nichts passierte, hat der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc jetzt angekündigt, man habe ein Gesetzespaket in Vorbereitung, das spätestens im Oktober in Kraft treten soll und viele kurdische Erwartungen erfüllen wird. Was genau in dem Paket enthalten sein wird, wollte Arinc noch nicht sagen, doch er deutete an, dass es auch um größere regionale Selbstverwaltung gehen könnte.
Das ist zwar noch keine Autonomie, aber die Kurden glauben, dass die Zeit für sie arbeitet und die bisherigen Grenzen zwischen den kurdischen autonomen Gebieten im Nordirak, in Nordsyrien und den Selbstverwaltungsgebieten in der Südost-Türkei sehr durchlässig sein werden. Man redet schon von einem kurdischen Schengen-Gebiet.
Die Trumpfkarte von Ankara ist, dass diese zukünftigen kurdischen Autonomiegebiete praktisch nur lebensfähig sind, wenn sie die wohlwollende Unterstützung der Türkei genießen. Schon heute ist der Nordirak von türkischen Firmen dominiert. Fast alle Importwaren stammen aus der Türkei. Die lebensnotwendigen Verbindungslinien der irakischen Kurden laufen umso mehr über die Türkei, je mehr sich ihr Verhältnis zu Bagdad verschlechtert. Das Ziel der türkischen Kurdenpolitik ist es deshalb, autonome kurdische Gebiete zu dulden, die mehr oder weniger unter türkischem Protektorat stehen.
Dafür müssen aber sowohl die PKK als auch die türkischen Nationalisten radikal umdenken. Teilweise ist das bereits geschehen, doch die Reaktionen auf die Entwicklung in Syrien zeigen, dass die alten Reflexe noch sehr lebendig sind. Eine gute Nachricht für Erdogan gibt es allerdings: Nach neuesten Umfragen wächst die Zahl derjenigen in der Türkei, die einen Friedensprozess mit der PKK unterstützen. 90 Prozent der Kurden und 70 Prozent aller übrigen Bürger der Türkei sind für die Friedensgespräche mit der PKK. Das zeigt, dass Erdogan trotz seiner katastrophalen Politik gegen die Gezi-Park-Protestbewegung für einen Frieden mit den Kurden noch eine große Unterstützung genießt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn