Kunstwerk am Amazon-Tower: Interpretation mit der Spraydose
Um den öffentlichen Raum zu bereichern, enthüllt der Immobilienentwickler Edge ein mysteriöses Kunstwerk. Doch das scheint nicht allen zu gefallen.
An kaum einem Ort in Berlin lassen sich die Blüten der kapitalgetriebenen Stadtentwicklung besser bewundern als an der Warschauer Brücke. Nachdem erst 2018 mit der East Side Mall ein architektonisches Juwel geschaffen wurde, das an eine Mischung aus WLAN-Router und Raumschiff Enterprise erinnert, baut der niederländische Projektentwickler Edge gerade an einem 140 Meter hohen Büroturm aus Glas und Beton – der vielen wegen seines zukünftigen Hauptmieters unter dem Namen „Amazon Tower“ bekannt ist.
Wenig überraschend lösten Mall und Turm im alternativ geprägten Bezirk Friedrichshain nur mäßige Begeisterung aus. Edge, sich dieses Umstands vermutlich bewusst, versuchte nun in der vergangenen Woche zumindest die kunstaffinen Anwohner:innen mit den in Beton gegossenen Anlageobjekten zu versöhnen: Enthüllt wurde das Ergebnis ihres „Kunst am Bau“-Wettbewerbs.
Einkaufswagen auf der Spitze
Bei der „Reversed Dunk“ betitelten Skulptur – unübersehbar platziert auf der Plattform zwischen Mall und Warschauer Brücke – handelt es sich um eine 23 Meter hohe schwarze Säule, die in ihrer Form einer Exponential-Kurve nachempfunden ist. Auf der Spitze, von unten kaum noch erkennbar, ist ein Einkaufswagen platziert, am Fuße der Säule sind Markierungen eines Basketball-Courts gezogen.
Nun erschließt sich die Intention von Künstler:innen in den seltensten Fällen nach einem flüchtigen Blick auf das Werk. Gute Kunst ist vielschichtig und bedarf einiger Interpretationsarbeit. Ein Blick auf die Website der Urheber:innen, dem Kunstkollektiv “KIM/ILLI, verrät dann auch: „‚Reversed Dunk‘ erkundet die komplizierten Verflechtungen von urbanen Dynamiken, historischen Sichtweisen und monumentalen Manifestationen des Kapitalismus.“
Elaborierte Kapitalismuskritik also. Doch wie glaubwürdig lässt sich der Kapitalismus kritisieren zwischen Berlins 69. Shoppingmall und dem zukünftigen Deutschland-Hauptquartier des weltweit größten Onlineversandhändlers? Wird der tägliche Anblick einer von einem Einkaufswagen gekrönten Wachstumskurve auch nur bei einem der 3.000 Amazon-Beschäftigten, die hier bald arbeiten werden, irgendetwas anderes als Selbstbestätigung auslösen? Eher unwahrscheinlich.
Noch so ein Beton-Phallus
Was bleibt, ist ein weiterer Beton-Phallus, der ungewollt den Kapitalismus abfeiert. Zum Glück nehmen einige kunstbegeisterte Friedrichshainer:innen fortlaufend Verbesserungen an der Skulptur vor: Nachdem Unbekannte zunächst in silberner Farbe „Kann weg“ auf die Säule gesprüht hatten, wurde sie nur wenige Tage später auch noch mit Farbbomben beworfen. Wenn sich die kapitalgetriebene Stadtentwicklung im Herzen Berlins schon nicht so leicht verhindern lässt, bleibt sie wenigstens nicht unkommentiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen