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Kunstmesse Art-O-RamaMarseille leuchtet

Das Kunsttreiben in Marseille vibriert vor Entdeckungen. Das liegt auch an der Kunstmesse Art-O-Rama – eine Kulturszene, die Großzügigkeit verströmt.

Blick auf Marseille Foto: Antonin Borgeaud/Le Figaro Magazine/laif

Betritt man an einem frühen Spätsommerabend das Dach der Marseiller Unité d’habitation, der „Wohnmaschine“ aus der Hand des Architekten Charles-Édouard Jeanneret-Gris, besser bekannt als Le Corbusier, kann einem leicht schwindelig werden.

Ausgedehnt erstreckt sich hier der Terrassenbeton über die gesamte Länge des 18. Stockwerks, auf dem sich momentan nicht nur die markanten skulpturalen Lüftungsschächte in den Himmel recken, sondern auch eine sieben Meter hohe Bronzeskulptur zweier gigantischer, abstrahierter Kerzen des US-amerikanischen Künstlers Sterling Ruby sanft im Wind zu schwanken scheint.

Der ebenfalls hier befindliche Kunstraum MAMO hat sie dort aufgestellt, als sei sie schon immer das Wahrzeichen der Cité Radieuse gewesen, der „leuch­tenden Stadt“, wie Le Corbusier sein Gebäude nannte – und welches, ungleich anders als die deutsche Version des Konzepts im Berliner Westen, tatsächlich funktioniert.

Neben mehr als 300 Wohnungen finden in Marseille ein Kindergarten, eine Sporthalle, diverse Geschäfte und Galerien, ein Hotel und eine Bar in der späten 40er-Jahre-Architektur Platz – und mit ihnen ein geschäftiges Publikum, welches das Gebäude nicht nur als Denkmal nutzt, auch wenn es die Aussicht schätzt: Immer wieder laufen die Blicke der Pas­san­ten über die Betonbalustrade in die milchige Leere über der weißen, kargen Stadt, die von oben betrachtet zwischen Bergen und Meer so verstreut liegt, als hätte ein Riese eine Packung Würfelzucker ausgekippt.

Blickt man dieser Tage auf die südfranzösische Hafenstadt, erhält man den Eindruck, dass hier überhaupt vieles zu funktionieren scheint. Vom schlechten Ruf, geprägt von Drogenkriminalität und Armut, ist am letzten Wochenende der französischen Sommerferien wenig zu spüren. Stattdessen vibriert die mediterrane Metropole voller Kunst und Kultur, ausgerechnet von La Belle du Mai ausgehend, einem Arbeiterviertel nördlich des Bahnhofs, dessen Reputation jahrelang als besonders schlecht galt.

Antoine Conde„THE WATCHER“, 2025, Crayon graphite sur papier Arche, 70 × 50 cm Foto: Courtesy Antoine Conde/DS Galerie

Kunstmesse Art-O-Rama

Seit 2007 findet hier die Kunstmesse Art-O-Rama in der umgewidmeten alten Tabakfabrik „La Friche“ statt, die mit ihren vollgesprühten Wänden, einem Skatepark und architektonischen Brüchen so gar nicht nach den luxusbetuchten Sammlern und Champagner-Lounges aussieht, die man von den globalen, marktführenden Art-Basel-Ausläufern gewohnt ist.

1996 von Roger Palhais als eine Art Salon unter dem Namen „Art Dealers“ mit acht eingeladenen Galerien und an anderem Ort gegründet, führte der heutige Messedirektor Jérôme Pantalacci und langjährige Begleiter Palhais nach dessen Tod die Idee fort und gründete Art-O-Rama in ihrer jetzigen Form als Messe für aufstrebende Galerien.

Circa 40 internationale Kunsthändler haben sich hier in diesem Jahr versammelt, das Programm vieler Aussteller ist ungewöhnlich experimentell: Statt der für Verkaufsschauen üblichen Gruppenpräsentationen der warenförmigsten Werke gibt es Einzelpositionen und institutionell wirkende Kurationen, so zeigt beispielsweise Cable Depot aus Sofia die dokumentarisch anmutende Videoarbeit Gabriela Löffels über eine Schweizer Waffenmesse oder die Pariser DS Galerie lediglich kleinformatige Bleistift-Zeichnungen von Antoine Conde.

Letztere zwar hochgradig begehrenswert und eindeutig käuflich, doch mit teils unter 1.000 Euro ungewöhnlich niedrig bepreist.

Kunst-Verkauf steht nicht im Vordergrund

Doch Verkaufen steht eh nicht im Vordergrund, die Messe richte sich viel mehr an Ku­ra­to­r:in­nen und Mitarbeitende großer Kunstinstitutionen, die ihren Sommer am Meer verbringen und dann zum Ende der Sommerpause hier nach neuen Entdeckungen suchten, berichtet Peter Bancze von Longtermhandstand aus Budapest. Sein Ausstellungsstand sei dementsprechend konzeptionell, er zeige zeitgenössische Antworten auf Marcel Duchamp.

Es passt also, dass zeitgleich im Gebäude auch die Gruppenausstellung „Tipping Point“ mit größtenteils belgischen Positionen, organisiert vom Brüsseler Kulturzentrum Botanique und dem ISELP (Institut Supérieur d’Études en Langues et Littératures et de la Communication), und die Abschlussschau der diesjährigen Absolventen der Kunsthochschule Beaux-Arts de Marseille „Entre Deux Eaux“ – „Zwischen zwei Wassern“ stattfinden.

Schlendert man durch die weitläufigen Räume, bekommt man tatsächlich das Gefühl, dass es in erster Linie um die Künst­le­r:in­nen-Förderung geht sowie darum, den Be­woh­ne­r:in­nen der Stadt die Kunst zugänglich zu machen (für Kinder beispielsweise kostenlos) und nur in zweiter Konsequenz um die Wertsteigerung der Arbeiten, die die Kunst ja fast immer wie ein unnachgiebiger Parasit verfolgt.

Vom schlechten Ruf, geprägt von Drogenkriminalität und Armut, ist am letzten Wochenende der französischen Sommerferien wenig zu spüren.

Diesen abzustreifen und einfach nur zu sein, scheint in diesem Jahr auch eines der Hauptanliegen der inhaltlichen Auseinandersetzung der ausstellenden Künst­le­r:innen zu sein.

„Let me be slow, let me be sad, let me be me“ heißt es da beispielsweise auf einer Ouroboros-gleichen Drehscheibe von Nonna Supernova in der Absolventenschau, die Tribal-artigen Buchstaben auf der schwarzen Fläche in zartem Rosa gepinselt, während im hinteren Teil der Ausstellung unter anderem die Worte „Je ne pouvais plus“, „Ich konnte nicht mehr“, in einem handgeschöpften Papier von Camille Derniaux fast unsichtbar vor einem Lichtkasten erscheinen.

Die minimale Arbeitsweise Derniaux’ hat es auch dem Bildhauer Cyril Zarcone angetan, der Werke der jungen Absolventin im Herbst in seinem Studio zeigen wird, welches er viermal im Jahr für Ausstellungen befreundeter Künst­le­r:in­nen öffnet.

Einzelausstellungen sind schwierig zu bekommen

Solo Sola heißt der Projektraum dann, das erklärte Ziel Zarcones ist solidarisches Teilen und Sichtbarkeit: Es sei schwer, jenseits der Vierziger Einzelausstellungen zu bekommen, wenn man es bis dahin „nicht geschafft“ hat, erklärt der Künstler auf der Eröffnung, um auf die zu gelangen, man tatsächlich ein paar miefig-schummrige Straßentunnel durchqueren muss, in denen man lieber nicht zu sehr über die miese Kriminalstatistik der Stadt nachdenken will.

Anlässlich des Art-O-Rama-Wochenendes präsentiert er Werke von Carin Klonowski. Auch hier gibt es digitales Ornament, zerbrochene CDs, Plexiglas und Spiegel – nicht nur die Fülle an Platz, Freiheit und Graffiti in der Stadt, auch die dominierende Ästhetik schreit einem an jeder Ecke „Nullerjahre“ ins Gesicht.

Wie von Zarcone angedeutet, gibt es in den anderen Projekt­räumen der Stadt eher Gruppenausstellungen zu sehen, und zwar so viele, man kommt kaum hinterher. Er selbst zeigt seine Arbeiten in der Pop-up-Ausstellung „Border-Line“, kuratiert vom venezianischen Kuratorinnen-Kollektiv a.topos.

Geairbrushte Zombies

Nur wenige Arbeiten weiter hängen Werke von Caroline Douville, die ebenfalls eine wirklich fantastische Malerei geairbrushter Zombies bei Agent Troublant zeigt, einem Projektraum, dessen Gruppenschau mit dem passenden Titel „True Belief“ wiederum von Erratum Projects aus Berlin organisiert wird und auch ein Werk von Ix Dartyre ausstellt. Dartyres Arbeiten wurden für den Preis „Prix Région Sud Art“ nominiert – und sind damit auf der Messe zu sehen.

Dieses Wiederfinden und Erkennen geschieht schnell in Marseille. Die Szene ist gleichzeitig gigantisch und winzig – und erfüllt von der Großzügigkeit und dem gemeinsamen Miteinander, was immer dann entstehen kann, wenn genug für alle da ist. Am deutlichsten wird dies auf dem Festival „Systema“, welches zum fünften Mal im Palais Carli, einem alten Musikkonservatorium stattfindet, das am Freitagmittag so verlassen daliegt, dass man fast das Gefühl bekommt, aus Versehen den Hintereingang benutzt zu haben, wenn man es betritt.

Im Treppenhaus blättert dort zaghaft die Tapete von den Wänden und krümelt leise auf Tische voller Archivmaterial von John Giornos AIDS Treatment Project. Im Innenhof stöpseln junge Menschen an Synthesizern auf einer verlassenen Bühne herum, in der leer geräumten Bibliothek findet sich eine ganze Etüde zu anthropomorphen Holzfundstücken verschiedener Künst­le­r:in­nen, und im Flur projiziert der Marseiller Olivier Lubeck mit kleinformatigen Videoprojektoren charmant analog gefilmte Loops auf eine historische David-­Figur.

Das ganze Gebäude, das von nicht kommerziellen Projekträumen von Korea bis in die USA bespielt wird, ist von subtil ortsspezifisch präsentierter Kunst erfüllt.

Das Gespenst der Gentrifizierung

Leicht könnte man vorauseilend wehmütig werden, lässt man sich vom Marseiller Kunsttreiben mitreißen. Fast schon mit automatischem Misstrauen blickt man auf sich selbst und die anderen Touristen. Auf zu teure Schuhe, deren voll tönenden Absätze klappernd das Gespenst der Gentrifizierung ankündigen könnten.

Sollte man überhaupt über Marseille ­schreiben? Es vorantreiben, dass immer mehr Menschen auf der Flucht vor den immer gleich machenden Ketten und der Suche nach dem „authentischen“ Gefühl in die Stadt drängen? Ist es nicht eh schon lange zu spät? Oder muss man es gerade deswegen tun?

Am Ende bleibt nur, darauf zu hoffen, dass die Stadt tatsächlich begreift, was für ein unermesslicher Schatz ihr überbordendes Kunstmilieu ist – und wie sehr man es beschützen muss. Vielleicht am allermeisten vor dem eigenen Ruhm.

Die Recherche wurde von der Organisation Fræme unterstützt.

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