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KunstaktionDie gesprächige Mauerläuferin

Die polnisch-kanadische Künstlerin Kinga Araya läuft derzeit den ehemaligen Grenzverlauf der Mauer rund um das alte Westberlin ab. Das macht sie, weil ihr Thema das Weggehen ist.

Vor zwanzig Jahren ist die aus Polen stammende Künstlerin Kinga Araya aus ihrem Land weggelaufen. Das Jubiläum feiert sie in Berlin. Noch bis Donnerstag geht sie den ehemaligen Grenzverlauf der Mauer um das ehemalige Westberlin ab. In zehn Etappen hat sie sich den Grenzstreifen eingeteilt. 15 Kilometer will sie täglich gehen.

Sie hofft, dass Leute sie dabei begleiten. Und mit ihr sprechen. Über Grenzerfahrungen. Über das Fremde. Darüber, was es bedeutet, etwas nicht zu verstehen. "Walking and talking" - Gehen und reden nennt sie das. "Wenn man über das, was einem fremd ist, nicht spricht, kann man es niemals überwinden."

Araya kennt sich aus mit Grenzen und mit deren Überwindung. Sie überwindet sie, indem sie geht. Dies ist ihr zur Quelle künstlerischer Inspiration geworden. Sie geht. Mal schnallt sie sich dabei ein drittes Bein an. Es soll sie erden und behindert sie nur. Mal zieht sie sich Schuhe aus Glas an und kommt deshalb nicht vorwärts. Mal setzt sie sich einen metallenen Hut auf, an dem meterlange Metallstäbe hängen. Jede Bewegung erzeugt einen Ton. Mal geht sie einfach. Mit einem Koffer an den Strand etwa. Den setzt sie dort in Brand. Ihre Kleider, die sie am Leib hat, wirft sie auch ins Feuer. Nackt geht sie weiter.

"Ich gehe weg, um irgendwo anzukommen." Dabei kommt sie nie an. Als aber die Mauer fiel, die hier symbolisch für Ostblock steht, da war zumindest der Rückweg für sie wieder offen.

Die Geschichte der Kinga Araya, die Polen 1988 verließ, zu einer Zeit also, als der Westen den sozialistischen Ländern noch verschlossen waren, klingt entschlossen und hoffnunglos zugleich: "Ich bin einfach losgegangen, weggegangen, gegangen eben. Und habe mich nicht mehr umgedreht. So habe ich die Grenze überwunden." Man muss wissen, dass die mutige Aktion der damals 22-Jährigen nicht auf polnischem, sondern auf italienischem Boden stattgefunden hatte. Unglaublich ist die Geschichte trotzdem.

In Polen hatte Araya kein Visum fürs westliche Ausland bekommen, da sie in regimekritischen Kreisen verkehrte. Vor einer Studienfahrt nach Rom verbürgte sich einer ihrer Lehrer, der gleichzeitig ein Geistlicher war, dafür, dass er sie wieder mit zurückbringe. Als der Bus auf der Rückfahrt in Florenz Halt macht, läuft sie einfach davon und taucht unter. Über ein Jahr lang lebt sie illegal in Italien.

Als sie es nicht mehr aushält, geht sie zur kanadischen Botschaft und bittet, den Konsul sprechen zu dürfen. "Ich ging einfach in die Botschaft hinein. Normalerweise kriegt niemand so einfach einen Termin." Sie bekommt einen. Der Konsul verspricht ihr sogar, ein Visum für Kanada zu besorgen. Drei Monate später landet sie dort. In Kanada endlich kann sie studieren. Und promovieren. Heute hat sie die polnische und die kanadische Staatsbürgerschaft.

Vor einem Jahr kam Araya mit einem Stipendium nach Berlin. Hier also ist es die Mauer - nein, die Abwesenheit der Mauer -, die sie berührt. Deshalb geht sie entlang. Am vergangenen Mittwoch wurde sie dabei von der schweigsamen Berenika Partum begleitet, die als Kind von Polen nach Berlin kam. Ein ehemaliger Lkw-Fahrer aus Ostberlin ist auch dabei. Jürgen Rhode heißt er. Selbst der Regen kann seinen Redefluss nicht stoppen. Grenzübergänge, Checkpoints, Mauerverläufe - er kennt sich aus, weiß, welche Wege abgeschnitten waren. Denn Rhode durfte mit seinem Lkw auch in den Westen. Verbogen allerdings habe er sich für das System nie, sagt er. Im Gegenteil, am 17. Juni 1953 sei als 18-Jähriger in den Westen abgehauen. Nur habe er dort nicht Fuß gefasst, da sei er zwei Jahre später wieder zurück in die DDR. Als Knecht, als Bauarbeiter, als Kohlenträger habe er gearbeitet, bevor er Lkw-Fahrer wurde.

Die kleine Gruppe geht mitten durch Berlin. Von der Oberbaumbrücke bis zur Brunnenstraße - ein Weg voller Geschichte. Vorbei am legendären Kreuzberger Südosten mit seinem Mythos vom unangepassten Leben, vorbei an Checkpoint Charlie und Topographie des Terrors, vorbei an Potsdamer Platz, Brandenburger Tor und Reichstag. Vorbei an Hamburger Bahnhof, Invalidenfriedhof und Nordbahnhofsgelände. "Ich war bei dem Trupp, der die Gebäude auf dem Nordbahnhofsgelände abgerissen hat", berichtet Rhode. "Wir wurden bewacht, damit wir nicht über die Mauer springen", erklärt er. Hinter der Mauer war Westberlin.

Manchmal ist es nicht leicht, dem Lauf, den die Mauer einst nahm, zu folgen. Neue Gebäude versperren den Weg. Dann merkt man, wie Rhode und Berenika Partum sich in ihre Erinnerungsbilder versenken und das, was nun zu sehen ist, in Gedanken verrücken, damit es den Blick freigibt. "Da drüben müssen wir weiter", sagt einer von beiden nach kurzem Überlegen.

Araya filmt derweil die Füße der Mauerwanderer und nimmt die Gespräche auf. Rhode, der im Osten gelebt hat, und Berenika, die in Westberlin groß geworden ist, sehen die Mauer, die nicht mehr da ist, noch heute von unterschiedlichen Seiten. Das ist, was die Künstlerin deutlich machen will: Fremdheit ist immer eine Frage der Perspektive.

"Die Mauer ist eine Ware geworden", sagt eine Berlinerin, mit der Araya am Reichstag ins Gespräch kommt. "Für Touristen, für Künstler." Für einen Augenblick geht Araya irritiert weiter. Im Gehen braucht man nicht sofort eine Antwort zu finden. Plötzlich allerdings hat sie sie: "Eine Ware, für die es keine Bedienungsanleitung gibt, ist keine Ware." In vielen ihrer Performances und künstlerischen Interventionen hat sie genau das gemacht: Zuschreibungen infrage zu stellen. Wenn sie sich einen Schuh auf den Kopf stellt, eine Wärmflasche aufbläst oder Teeeier als Brille benutzt, dann kennt sie die Bedienungsanleitung nicht. Genau so aber fühle sich Fremdsein an, meint sie. Wenn Fremde jedoch eine Zeit lang miteinander gingen, dann seien sie sich weniger fremd.

In Berlin wollte Araya eigentlich länger bleiben. Nun kommt es wieder anders. Von einer Kunsthochschule in Florida wurde ihr, die sich seit fast 20 Jahren von einem Stipendium zum nächsten hangelt, eine Professur angeboten. Bald geht sie. "So ist es immer bei mir: Ich will endlich irgendwo angekommen und mich sicher fühlen, dann reise ich wegen der Sicherheit weiter." Ob Mauer oder nicht - für sie also bleibt alles ein Transit. "Einzig die Menschen, die mich begleiten, geben mir Orientierung."

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