piwik no script img

Kunst und Flucht in BerlinLiebe Grüße aus Marzahn

Der Künstler Patrick Timm betreibt in einer Unterkunft für Geflüchtete eine temporäre „Poststelle“. Am Freitag endet seine Residenz dort.

Interaktion gehört dazu: Patrick Timm vor seiner „Poststelle“ Foto: Lia Darjes

Berlin taz | Das Häuschen mit der Aufschrift „Poststelle“ und dem gelben Briefkasten an der Seite ist ein kleiner, sonnengelber Lichtblick im grauen Hof der Modularen Unterkunft für Geflüchtete (MUF) in der Rudolf-Leonhard-Straße 13 in Marzahn. Patrick Timm, der passend zum Häuschen ein gelbes Shirt mit dem Aufdruck „Poststelle“ trägt, sitzt auf der kleinen Terrasse des Häuschens, in dem er vier Wochen leben und arbeiten darf. Er freut sich: „Manchmal fühle ich mich hier wie an Deck eines Postschiffs auf der Reise. Eigentlich schade, dass die Reise schon wieder zu Ende geht.“

Patrick Timm ist der sechste Künstler, der von der Berliner Künstlerinnengruppe msk7 im Rahmen ihres Projekts „Residenzpflicht“ eines von zehn Stipendien für einmonatige Arbeitsaufenthalte in Berliner Unterkünften für Geflüchtete erhalten hat – und er ist der erste, der nach der coronabedingten Pause das 2019 begonnene Projekt fortführen kann. Finanziert wird das Ganze vom Land Berlin im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Mit jeder Residenz, innerhalb derer die Be­woh­ne­r*in­nen auch gebeten sind, vor Ort zu wohnen, wechselt der Standort. Im Oktober, wenn das Projekt ausläuft, wird jede der zehn Berliner MUFs einmal dran gewesen sein.

„Ziel des Programms ist es“, berichtet die bildende Künstlerin Kati Gausmann von msk7, „die Unterkünfte, die größtenteils in den äußersten Randbezirken der Stadt stehen, ernst zu nehmen.“ Gausmann verweist auf ein Manifest der Initiative und Graswurzelbewegung Rise in Aus­tra­lien, in dem sich Geflohene wegen steigender Nachfrage dagegen wehren, als Kunstobjekte betrachtet zu werden. „Es ging uns weniger um Partizipation als eher darum, die Orte für zeitgenössische Kunst zu öffnen und damit vielleicht ein bisschen weiter in die gesellschaftliche Mitte zu holen“, sagt sie. Patrick Timm pflichtet ihr bei, fügt aber nach kurzer Denkpause lächelnd hinzu: „Und trotzdem ist natürlich Interaktion erwünscht.“

Alles dreht sich um Entschleunigung

Tatsächlich ist der Austausch mit Geflüchteten beim Projekt, das sich Patrick Timm für die MUFs ausgedacht hat, viel mehr essenzieller Bestandteil. Denn von innen sieht das kleine Häuschen mit Bett und kleiner Kochmöglichkeit, das er nun schon seit fast drei Wochen bewohnt und bearbeitet, eher aus wie eine kleine, altmodische Poststelle als wie eine Künstlerresidenz. Ein Ort, an dem er nicht nur seine Dienste anbietet, sondern in der sich alles um Entschleunigung dreht.

Auf einem Schreibtisch steht ein Stempelhalter mit drei hölzernen Stempeln, eine Schreibmaschine mit 28 Tasten für die Buchstaben des arabischen Alphabets und eine alte Briefwaage mit emaillierter Skala. Hinter dem Schreibtisch hat er eine Weltkarte auf den Kopf gestellt und mit Pfeilen zu den Orten versehen, an die bereits Post verschickt wurde. Denn seit Beginn seiner Residenz hat Patrick Timm sein Handy ausgeschaltet und schreibt und empfängt nur noch Postkarten – die, die er bisher bekam, hat er ins Fenster seines Häuschens geklebt. „Am Anfang wollte ich die Refugee-Route bis nach Beirut rückwärtsgehen“, lächelt er und erklärt, warum er das dann als unpassend empfand.

Wege und Entfernungen, davon berichtet Timms künstlerischer Ansatz, sind für viele Menschen viel zu kurz und zu überbrückbar geworden, als dass sie sie noch wirklich spüren könnten. Andere Menschen, die ihre Heimat vielleicht zu Fuß verlassen mussten, können davon aber ein Lied singen.

Inzwischen hat Timm den Großteil der 1.000 Euro Materialgeld, die er über die 2.000 Euro Honorar hinaus für sein Projekt erhalten hat, in eigens angefertigte Postkarten mit Marzahn-Motiven und in Briefmarken angelegt. Alle, die Lust haben, können ihn in seiner „Poststelle“ besuchen und Karten oder Briefe schreiben. Immer wieder kommen Geflüchtete zu ihm und schreiben in die alte Heimat.

Eine der ruppigsten Ecken von Marzahn

„Der Höhepunkt meines Tages ist die Ankunft des Briefträgers in der MUF, der die Post holt und bringt“, erzählt er. Timm genießt aber auch seinen selbst erlaubten Ausgang zwischen 16 und 18 Uhr, wenn er einkauft, sein unmittelbares Umfeld erkundet und neue Fotos für Postkarten macht. Die Gegend rund um die Rudolf-Leonhard-Straße und damit die Ahrensfelder Berge gilt als eine der ruppigsten Ecken von Marzahn.

Und dann gibt es noch die allabendliche Stimmung auf dem Hof. „Hier ist wirklich abends Piazza“, berichtet er und strahlt. „In den MUFs wurden ja Gemeinschaftsküchen eingerichtet, aber ich habe den Eindruck, die Leute treffen sich viel lieber draußen“, sagt er.

Patrick Timm wurde 1979 in Hamburg geboren, hat in Weißensee Bildhauerei studiert und sich viel mit Happenings im öffentlichen Raum befasst. Seit über 20 Jahren ist er exzessiv auf Reisen, hat in Sankt Petersburg und Ulan-Bator gearbeitet, in Helsinki, Hongkong und an zahlreichen anderen Orten. Das Ziel seines aktuellen Projekts ist natürlich Marzahn selbst, aber darüber hinaus die ganze Welt inklusive einer persönlichen Zustellung eines Briefs im Iran oder auch im Libanon am Ende seiner Residenz. „Doch ich bin dabei auf Probleme gestoßen“, berichtet er, „zum Beispiel auf die Frage, ob man mit dieser Idee Empfänger eines Briefs auch in Schwierigkeiten bringen könnte.“

Bei der Abschlussveranstaltung am heutigen Freitag an seiner „Poststelle“ wird Timm ganz sicher verraten, was aus diesem Ziel geworden ist. Und wer es dahin nicht schafft: Das Programm geht ja weiter. Der nächste Stipendiat heißt Jorn Ebner, kommt aus Berlin und erhält seine „Residenzpflicht“ an einer MUF in Hellersdorf.

Abschlussveranstaltung von Patrick Timm am Freitag, Rudolf-Leonhard-Straße 13, Marzahn. Einlass nur mit negativem Coronaschnelltest.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.