Kunst des Hinsehens: Charmant unzeitgemäß

Marc Theis will mit seinen Fotos sichtbar machen, was sonst vielleicht untergeht. Eine Ausstellung zeigt diese verborgenen Orte

Hannovers Raschplatz überrascht dank Marc Theis Kunst, hinzusehen Foto: Marc Theis

Polizeigewahrsam“ heißt eine seiner Bildserien, die der in Hannover lebende Luxemburger Marc Theis im Braunschweiger Museum für Photographie zeigt. Unter dem Titel „Die Stadt im Bild“ spürt er verborgenen Orten nach, stellte 2015 ein Buch mit 18 solcher Orte in Hannover zusammen. Darunter ist eben auch das von 1900 bis 1903 erbaute ehemals königlich-preußische Polizeipräsidium am Waterlooplatz mit seinem Gefängnistrakt mit 78 Zellen.

Einst als vorbildliche Strafvollzugsarchitektur errichtet, dürfen die meist nur vier Quadratmeter großen Zellen seit Jahrzehnten nicht mehr regulär genutzt werden, außer zum kurzzeitigen Festsetzen etwa von Hooligans aus dem benachbarten Fußballstadion.

Oder, wie am 15. Juni 1972, als Ulrike Meinhof nach ihrer Gefangennahme in Langenhagen und schikanöser Personenfeststellung hier für eine Nacht arretiert wurde. Marc Theis hat ihre Zellentür mit der Nummer 1 fotografiert und den bauzeitlichen Schriftzug, der in preußisch schwarzer Pädagogik das Raumvolumen auf gerade mal 12,77 Kubikmetern beziffert, also eine recht beengte Angelegenheit. Meinhof war nicht der einzige prominente Häftling, hier saß nach 1925 auch der Serienmörder Fritz Haarmann ein. Es sind diese kleinen Geschichten, die Theis interessieren.

In der Regel ist es nicht leicht, Zutritt zu den Orten zu erhalten, sei es aus Geheimhaltungs- und Sicherheitsgründen. Oder weil ein Abriss unmittelbar bevorsteht. Theis erzählt, wie die Baufahrzeuge bereits Position bezogen, als er seine letzten Aufnahmen in den unterirdischen Verbindungsgängen zwischen Haupt- und Omnibusbahnhof am Raschplatz in Hannover abschloss. Ihre wohl mal als bunt und dynamisch gedachte 70er-Jahre-Ästhetik ist nun zu düsteren Stimmungsbildern einer bereits nach nur wenigen Jahren gescheiterten Urbanitätsverheißung geronnen. Aufheiternde Sonnenstrahlen sucht man vergeblich, sie wären ohnehin nicht bis hier gedrungen.

Wenig harte Schatten

Wobei Sonnenlicht und harte Schatten in den Fotografien von Marc Theis nicht auftauchen. Er liebt zum Arbeiten den bedeckten Himmel, mit dessen Licht er seine Innenräume in einen Schwebezustand aus (noch) alltäglich praktiziertem Gebrauch und dem einsetzenden Charme des entrückt Unzeitgemäßen versetzt. Und dafür wird nichts arrangiert, weggenommen oder gar in der digitalen Postproduktion manipuliert. Die Räume erzählen nur aus ihrer Authentizität und Geschichte heraus.

Das gelingt am besten bei Orten, denen ohnehin eine gewisse Skurrilität eigen ist. In Hannover ist das etwa der nur noch langjährigen Altkunden zugängliche Tresorraum der ehemals Hannoverschen, nun Deutschen Bank. Über eine Marmortreppe mit Jugendstilgeländer und rotem Teppich geht es zu den grünen Schließfächern. In seiner innenarchitektonischen Finesse ist der Raum mittlerweile so unelegant wie offensichtlich möglich gebrochen, etwa durch einen riesigen Kronleuchter neueren Datums, moderne Überwachungseinrichtung und triviales Mobiliar.

Für seine Ausstellung in Braunschweig erweiterte Theis nun seine Konvolute um örtliche Motive. Hier war er in der recht kurzen Produktionszeit auf Empfehlungen des Museums angewiesen. Nicht alles hat deshalb die Intensität der lokalen Vertrautheit seiner Hannoveraner Recherchen. Sein Blick in das Musikinstrumentendepot des Städtischen Museums offenbart eine Ansammlung zerzauster und restaurierungsbedürftiger Tasteninstrumente – ein Bild, das sich ähnlich wohl in jeder chronisch unterfinanzierten Sammlung bietet.

Kleinod gefunden

Aber Marc Theis sah sich auch bei einer alteingesessenen, seit rund 125 Jahren familiengeführten Fachhandlung für Tapeten um. Das für jedermann zugängliche Geschäft ist somit kein verborgener Ort. Allerdings sind Produktpalette und Anwendungsbereich mittlerweile nur noch etwas für ausgesprochene Fans und Connaisseure dieser Art von Wandbekleidung. Der 80-jährige Inhaber ist zudem ein mit allen künstlerischen wie historischen Facetten seines Metiers vertrauter Experte.

„Stadt im Bild – Verborgene Orte in Braunschweig und Hannover“: bis 12. März, Museum für Photographie, Helmstedter Straße 1, Braunschweig

Theis näherte sich sensibel diesem Kleinod aus Warenlager, Produktpräsentation und Firmenarchiv. Es gibt dezente Hinweise auf die wohl letzte Blüte dieser dekorativen Branche, ebenfalls in den 70er-Jahren, durch beiläufig im Raum verteilte Designklassiker der Zeit. Seine Familie betreibt selbst ein derartiges Geschäft in Luxemburg, erzählt Theis. Er weiß also um diesen speziellen Zauber.

Klassisch ist meist auch der Bildzugriff von Marc Theis: Zentralperspektive und orthogonale Detailaufnahme. Der 1953 in Luxemburg geborene Theis erlernte erst ein Handwerk, bevor er, in Ermangelung einer Kunsthochschule in seiner Heimat, über die Stuttgarter Akademie nach Hannover kam. Hier war es dann Heinrich Riebesehl, dem er mitunter assistierte. Dessen dokumentarische Bildsprache, etwa in seinen Serien zu norddeutschen Agrarlandschaften, schärfte wohl seinen Blick für die verborgenen Qualitäten des Alltäglichen, für das Besondere im Allgegenwärtigen. Das glaubhaft zu ergründen, gelingt Marc Theis mit seiner thematisch diszipliniert angelegten und mit der nötigen Ausdauer durchgestandenen Fotografie.

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