Kunst aus US-Knast: Ästhetik des Kerkers
Künstler in Haft. Die New Yorker Schau „Marking Time: Art in the Age of Mass Incarceration“ im MoMA PS 1 versammelt Arbeiten von Gefangenen.
Wo derzeit an besonders ansteckungsgefährdete Personen gedacht wird, kommen nach den Senioren gleich die Gefängnisinsassen. Totale Institutionen, in denen man eingesperrt ist, sind besondere Infektionsherde, im Fall der Haftanstalten treffen sie einen ohnehin ausgestoßenen, oft verachteten Teil der Bevölkerung. Die türkische Obrigkeit wusste sich nicht anders zu helfen als mit einer Generalamnestie (politische Gefangene ausgeschlossen), in Haftanstalten der Vereinigten Staaten kann selbst eine kurze U-Haft das Todesurteil bedeuten.
Dort sitzen drei Millionen Häftlinge in 7.000 Vollzugsanstalten, und vor allem bei Afroamerikanern unter 30 gehört eine Zeit im Knast fast zum Lebenslauf. Oft wegen einer Lappalie, die keine Haft rechtfertigt, oder wegen eines delinquenten Verhaltens, das im Knast erst recht gedeihen wird.
Außenstehende meinen diese „Unterwelt“ aus der umfangreichen Gefängnisliteratur und Kriminalfilmen zu kennen: die engen Zellen, die langen Flure, die Hofgänge, diverse Beschäftigungstherapien, Gewalt unter Gefangenen. Doch der wahre Gefängnisalltag bleibt verborgen, der Steckbrief eines finster in die Kamera blickenden Delinquenten prägt das Bild.
Zum Kontrast hat die kalifornische Künstlerin Alyse Emdur in ihrem Buch „Prison Landscapes“ improvisierte Selfies von Inhaftierten vor kitschigen Fototapeten und Wandgemälden gesammelt, die sie Angehörigen mitgeben oder zusenden. Emdur musste übrigens nur ins Familienfotoalbum schauen, um solche Zeugnisse zu entdecken.
Zeugnisse des Lebens hinter Gefängnismauern
Auch Nicole Fleetwood, als Professorin für Kunstgeschichte an der Rutgers University spezialisiert auf ikonische „blackness“, hat aus ihrer Jugend in Ohio zahlreiche Bekannte und Verwandte, die in Haft waren. Vor diesem Hintergrund begann sie, visuelle Zeugnisse des Lebens hinter Gefängnismauern zu sammeln, die Insassen aus eigenem Antrieb und im Rahmen ihrer Resozialisierung anfertigen.
Die von ihr kuratierte Ausstellung im New Yorker MoMA PS 1 „Marking Time: Art in the Age of Mass Incarceration“ musste verschoben werden, aber im Katalog ist gut nachvollziehbar, wie ein solcher „Zeitvertreib“ von Eingesperrten aussieht, der von den Tagesstrichen für die verbleibende Haftzeit bis zu elaborierten Kunstwerken reicht.
Sie dienen als Existenzbeweis und funktionieren als Währung: Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, Collagen und Grußkarten zirkulieren als Geschenke und Bestechungsgaben zwischen Insassen genau wie im Austausch mit Schließern, Sozialarbeitern und Besuchern. Zunehmend ist dieses Material in Museen, Bibliotheken und Universitäten zu sehen und dringt, bisweilen als Dernier Cri, in die Galerien vor.
Der Kerker (oder Karzer), von innen erlebt oder von außen imaginiert, ist schon lange ein Thema der Kunst, wie Darstellungen von Johannes dem Täufer und Apostel Paulus zeigen. In der Kunstgeschichte ragen die „Carceri“, Giambattista Piranesis um 1750 entstandene Kupferstiche, heraus; bis heute dienen sie als Anregung, zum Beispiel für den Leipziger Maler Jörg Ernert.
Die Düsternis des Kerkers von innen
Entwarf Piranesi architektonische Fantasien, die später realen Gefängnisbauten zugrunde lagen, haben Künstler wie Gustave Courbet, der sich an der Pariser Commune beteiligt hatte, als politische Häftlinge die Düsternis des Kerkers von innen dokumentiert.
In der Ausstellung hat man es mit Werken „gemeiner“ Gewaltverbrecher zu tun. Manches erinnert an „naive Malerei“, anderes ob seiner Hermetik an die Hirschhorn-Sammlung aus psychiatrischen Anstalten. Hervorheben kann man die Porträtserie „Pyrrhic Defeat“ von Mark Loughney, einem 43-jährigen Insassen der State Correctional Institution Dallas, der eine Mindeststrafe von zehn Jahren wegen eines Feueranschlags auf seine Nachbarn absitzt. Die im Affekt begangene Tat kann er selbst nicht begreifen und bewertet seine Strafe als gerecht.
Im Gefängnis entdeckte der Musiker eine alte Leidenschaft wieder und fing an, Mitgefangene in knappen 20-Minuten-Sitzungen zu porträtieren, viele erzählten ihm dabei ihre Lebensgeschichte. Die Härte des Gefängnislebens und seine gelegentlich aufblitzende Menschlichkeit sind in die Gesichter geschrieben. In raschen Strichen sind 200 eindringliche Porträts von Drogendealern, Totschlägern und Raubmördern entstanden, auch von Männern, die ihre Unschuld beteuern.
Sie heben sich von den abschreckenden Steckbriefansichten genau wie von den süßlichen Selbstinszenierungen für Angehörige ab, übrigens auch von der berüchtigten Physiognomik des italienischen Gerichtsmediziners Cesare Lombroso, aus denen er Tätertypen des „Uomo delinquente“ (1867) ableitete. Diese Pseudowissenschaft verbreitete eine fragwürdige Verdachtskriminologie, die heute in China durch Algorithmen perfektioniert wird, um „Verbrechervisagen“ auszumachen und deren Träger womöglich auszusondern.
Die therapeutische Rolle der Kunstpädagogik
Nicole Fleetwood umrahmt die (ausschließlich von Männern angefertigten) Kerkerbilder mit Arbeiten rund um die (in den USA meist privatisierte) Gefängnisindustrie. Als Ergebnis intensiver Recherchen will sie nicht nur Kunstwerke und die therapeutische Rolle der Kunstpädagogik würdigen, sie protestiert auch politisch gegen die systematische Einkerkerung in ihrem Land, die an die Stelle einer vorsorgenden Sozial- und Gesundheitspolitik getreten ist.
Kunstunterricht im Gefängnis und Ausstellungen der dabei entstandenen Werke fördern auch Vereine in Deutschland. Illusionen über die Breitenwirkung dieser Initiativen macht sich wohl niemand, auch gibt es die Versuchung einer freundlich gemeinten Mode von „Knastbildern“. Gänzlich deplatziert wirkt der Joseph Beuys zugeschriebene Spruch, Künstler und Verbrecher seien in ihrem unbändigen Freiheitsdrang Weggefährten.
„Marking Time“ beleuchtet in Zeiten temporären Eingeschlossenseins die im Dunkeln gelassene Seite der Gesellschaft, die viel über die vermeintlich helleren aussagt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen