Kultur und Migration: „Es geht um Menschlichkeit“
„La Nomad House“ gastiert in Potsdam. Das Theaterprojekt sei ein Statement gegen die EU-Migrationspolitik, sagt Harald Glöde von „borderline-europe“.
taz: Herr Glöde, im Neuen Lustgarten in Potsdam gastiert bis zum 11. Mai „La Nomad House“. Was ist das?
Harald Glöde: Das Projekt bezeichnet sich als transnationales, reisendes Kulturzentrum. In einer Zeltsiedlung wird ein Theaterstück aufgeführt, eine Neuinterpretation des „Sommernachtstraums“. Es gibt außerdem eine Ausstellung, eine Konferenz und einen „Markt der Möglichkeiten“.
Wer macht „Nomad House“?
Der Impuls ging aus von einem Theaterensemble aus Brüssel: Der „Compagnie des nouveaux disparus“, also „Companie der neuen Verschwundenen“. Die Gruppe hat von jeher das Thema Migration und die Verschwundenen im Mittelmeer und in der Sahara bearbeitet, der künstlerische Leiter kommt aus Marokko. In dem Namen klingt ja auch das nomadische Leben mit, in dem Bewegungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit ist.
Vom 6. bis 11. Mai 2024 gastiert das wandernde europäische Kulturzentrum „La Nomad House“ in Potsdam (Neuer Lustgarten). Von Mittwoch bis Samstag gibt es abends die Theateraufführung „Le Sorge“, eine Adaption von William Shakespeares „Sommernachtstraum“, eine Mischung aus Theater, Musik, Tanz und Zirkus. Der Eintritt ist kostenlos, aber man muss sich registrieren. Das Projekt wird vom „Creative Europe“-Programm gefördert.
Die audiovisuelle Ausstellung „Beyond Borders“ der Fotojournalistin Selene Magnolia Gatti in Zusammenarbeit mit borderline-europe befasst sich mit der Situation an der EU-Außengrenze und in Europa.
Am 10. Mai um 17 Uhr findet eine Konferenz plus Expertenrunde zu Formen des Widerstands gegen das GEAS statt. Reservierung erforderlich.
Am 6. Mai um 19 Uhr wird der Film „The Green Border“ gezeigt. Anschließend Diskussion mit der Menschenrechtsaktivistin Anna Albot, die bei den Dreharbeiten beraten hat.
Infos: borderline-europe.de und lanomadhouse.com/de/. (SUM)
(75) ist Mitbegründer von borderline-europe
Was machen Sie mit „borderline-europe“ bei einem Theaterprojekt?
Wir haben zusammen mit einer Fotojournalistin, die das Projekt in den vergangenen neun Monaten begleitet hat, eine Ausstellung organisiert. Die Fotografin hat die Theaterproben in den beteiligten Städten festgehalten, aber auch jeweils vor Ort die Situation der Geflüchteten dokumentiert. Diese Ausstellung begleitet „La Nomad House“ die ganze Sommertour durch Europa.
Sie haben das Stück in Brüssel bei der Uraufführung gesehen. Wie war das?
Das Ganze verströmt sehr viel Energie, es gibt Artistik, Musik, das ist ein Spektakel! Inhaltlich geht es natürlich um Migration, um Solidarität und Menschlichkeit. Das Stück ist auf Französisch, was es für mich nicht einfach zu verstehen machte – aber in Potsdam gibt es Übertitel.
Was passiert auf „der Konferenz“ im Nomad House?
Die Konferenzen werden in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich sein. Für Potsdam haben wir uns das Thema GEAS …
… das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ …
… im Kontext der EU-Wahl ausgesucht. Es ist ja zu befürchten, dass das Migrationsthema bei dieser Wahl wieder eine sehr populistische, Angst machende Rolle spielen wird. Gleichzeitig hat es kürzlich diese Verabschiedung von GEAS im EU-Parlament gegeben, die ja auch zum Ziel hatte, etwas „Vorzeigbares“ für die Wahlen zu haben.
Für die „besorgten“, rechten Bürger?
Genau. Ich glaube aber, die wenigsten Menschen wissen, was GEAS wirklich bedeutet und welche Konsequenzen es haben wird. Darüber wollen wir informieren und den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen GEAS von Pro Asyl und anderen, den es ja massiv gegeben hat, nochmal zum Thema machen. Europa hatte mal das Mantra vom „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – aber darauf bezieht sich heute kaum noch jemand. Daran wollen wir erinnern: wie die Verlogenheit der europäischen Politik von außen, von den Betroffenen wahrgenommen wird.
Was erwarten Sie von der Europawahl?
Wir haben das Dilemma, dass die meisten Parteien dem rechten Rand hinterherhecheln und man eigentlich nicht recht weiß, wen man wählen kann. Ein Theaterprojekt ist nur ein ganz kleiner Versuch, sich dem entgegenzustemmen. Andererseits gab es erst kürzlich ein Beispiel dafür, dass Kunst durchaus etwas verändern kann.
Nämlich?
Der Film „The Green Border“ über die belarussisch-polnische Grenze und den verborgenen Krieg gegen Flüchtlinge hatte wohl einigen Einfluss auf die letzte Wahl in Polen. Die Regisseurin Agnieszka Holland hat auf einer Gala gesagt, der Film, der drei, vier Monate vor den Wahlen ins Kino kam, sei der meist gesehene seit Jahren in Polen gewesen. Es gab sehr viele Reaktionen. Sie wurde als „Vaterlandsverräterin“ beschimpft, musste Polizeischutz bekommen. Der Film hat offensichtlich in Polen einiges ausgelöst.
Wie erklären Sie sich das?
Eigentlich ist es ein Dokumentarfilm. Er beschreibt authentisch die Situation an der Grenze, wie übel den Flüchtlingen mitgespielt wird. Dass es aber auch Menschen gibt, die ihren humanitären Background nicht ganz verloren haben. Der Film wirkt auch stark durch die Bilder. Das hat wohl viele zum Nachdenken gebracht.
Kommen wir zu Ihrer Gruppe borderline-europe. Was machen Sie?
Wir haben uns 2007 in Berlin gegründet. Eine Kollegin zog 2009 nach Palermo, seitdem haben wir auch dort ein Büro und einen Verein. Die Kollegin hat mit italienischen Aktivist*innen ein Monitoring der Situation der Geflüchteten auf Sizilien und in Richtung Lampedusa und Nordafrika begonnen.
Auf dem Meer?
An Land. Als 2015 die zivile Seenotrettung begann, war es für sie ausgesprochen hilfreich, dass es uns gab, weil wir vor Ort verankert waren und die Strukturen kannten. Und wir kooperieren seither.
Was ist Ihr Part dabei, Sie haben ja keine Rettungsschiffe?
Wir machen viel Öffentlichkeitsarbeit, haben Kontakte, etwa zu Jurist*innen in Italien, Griechenland. Wir waren in gewisser Weise auch Geburtshelfer für die Seawatch, denn wir haben anfangs für Harald Höppner, den Initiator, Spenden eingesammelt – und so zum Anfang dieser großartigen Organisation beigetragen. Wir arbeiten viel mit Aktivist*innen aus der Geflüchtetenszene zusammen, helfen, Anträge zu stellen, solche Dinge. 2016 haben wir zum Beispiel ein soziales Projekt zur Unterstützung von Geflüchteten auf Lesbos begonnen, das gibt es immer noch.
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Beobachtung und Dokumentation von sogenannten Schleuser-Prozessen.
Ja, wir nennen das „Kriminalisierung von Solidarität“. Gerade gibt es ja zum Beispiel die Berufungsverhandlung im Fall Homayoun Sabetara, einem iranischen Flüchtling, der gezwungen wurde, das Fluchtauto zu fahren. Er wollte zu seinen Töchtern nach Deutschland und ist in Griechenland zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Seine Tochter hier in Berlin hat eine Kampagne für seine Freilassung organisiert. Homayoun ist kein Einzelfall. In Griechenland sitzen Hunderte Flüchtlinge wegen „Schleusens“ in Haft, in Europa Tausende.
Das sind Flüchtlinge, keine Geschäftsleute oder andere Kriminelle, denn es nur um das Geld geht?
In der Regel sind es Flüchtlinge und sie bekommen mehrjährige Haftstrafen, bis zu 100 Jahre! Oft sind die „Schleuser“ arme Menschen etwa aus der Türkei, denen man ein paar hundert Euro verspricht, wenn sie das Boot fahren. Die haben keine Ahnung und werden bei diesen gefährlichen Überfahrten praktisch verheizt. Dazu kommt: Weil die Familienzusammenführung nach Deutschland nicht funktioniert oder in die Länge gezogen wird, bleibt Menschen nicht anderes übrig, als sich der Schlepper-Schleuser zu bedienen.
Es gibt aber auch kriminelle Schleuser, oder?
Keine Frage, es gibt ja den Bedarf. Das ist wie mit der Prohibition, sie hat auch dafür gesorgt, dass die Mafia entsteht. Wo es ein Bedürfnis gibt, ob Alkohol oder dass man abhauen muss, wird es Leute geben, die damit Geld verdienen.
Was ist Ihre Vorstellung von guter EU-Migrationspolitik?
Das mit den Wahlen ist schwer. Man kommt nicht umhin, die Systemfrage zu stellen. Wir Europäer leben seit Jahrhunderten auf Kosten des Globalen Südens. Und wir zementieren mit der Abschottungspolitik, in die jährlich Milliarden Euro fließen, weiterhin das Wohlstandsgefälle, das die Migration auslöst. Das muss sich ändern. Auch die Kollaboration der EU mit Diktatoren, wie etwa Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten, um die Abschottung zu vervollkommnen, muss aufhören!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen