Kubanischer Künstler über Proteste: „Kuba droht ein Bürgerkrieg“
Der Protest markiert eine Zäsur, sagt Michel Matos von der Künstler-Protestbewegung San Isidro. Dem Präsidenten wirft er Verbrechen vor.
taz: Herr Matos, Kuba erlebt gerade die massivsten Proteste seit der Revolution von 1959. Markieren sie den Auftakt für einen grundlegenden Wandel auf der Insel der Revolution?
Michel Matos: Der 11. Juli wird als Wendepunkt in Kubas Geschichte eingehen – ich hoffe, in Richtung Reformen. Die sozialen Proteste der Vergangenheit lassen sich in Kuba an einer Hand abzählen. 1994 hat es den Maleconazo gegeben, eine Spontandemonstration an Havannas Uferpromenade, dem Malecón. Der Protest richtete sich gegen Stromabschaltungen, Lebensmittelknappheit und Versorgungsengpässe. Dabei wurden auch Supermärkte ausgeräumt. Damals ging Fidel Castro auf die Straße und stellte sich dem Dialog mit den Protestierenden – unter den Augen von Sondereinsatzkommandos. Heute ist das anders: Präsident Miguel Díaz-Canel hat nicht den Kontakt mit den Protestierenden gesucht – und es sind nicht hunderte, sondern viele, viele tausend Kubaner*innen auf die Straße gegangen. Die Bevölkerung hat die Angst vor der staatlichen Repression und Kontrolle verloren.
Ist die Rückkehr der Stromabschaltungen, der apagones, ein Katalysator für die Proteste?
Sie sind ein Faktor, aber nicht der einzige. Der latente Lebensmittelmangel, die leeren Regale in Apotheken und Kliniken, steigende Preise, die Einrichtung von Devisen-Supermärkten sowie die staatliche Repression sind weitere Faktoren. Wichtig ist: dieser Protest hat keine Führung, keine Organisationen dahinter, die die Demonstrationen koordinieren – sie sind spontan. Die Tatsache, dass die ersten Proteste in San Antonio de los Baños, einer Kleinstadt im Großraum Havanna, begannen, bestätigt das. Die Bilder der dortigen Demonstration fluteten die sozialen Netze und sie sorgten dafür, dass viele Tausend Kubaner*innen spontan auf die Straße gingen. Nicht nur in Havanna, sondern inselweit, und die Botschaft ist klar: Wir wollen diese Regierung nicht.
40, Dokumentarfilmer, ist Mitgründer des Movimiento San Isidro. Das hat sich 2018 gegründet, um gegen die Regulierung des Kunstbetriebs in Kuba zu protestieren. Er gehört auch der Künstler*innengruppe 27 N an, die im November 2020 in den Dialog mit den Verantwortlichen der Kulturpolitik trat. Nach dem Treffen wurden viele der 27-N-Mitglieder jedoch kriminalisiert, unter Hausarrest gestellt und vom Internetzugang getrennt.
Die Antwort von Präsident Miguel Díaz-Canel kam prompt …
Ja, und sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sein Befehl, zur Verteidigung der Revolution zum Kampf auf der Straße überzugehen, ist verheerend. Es kursieren Bilder und Videos von Polizisten und Spezialeinheiten, die auf Kubaner*innen schießen. Gezielt, ich rede nicht von Warnschüssen. Ärzte auf sozialen Medien bestätigen, dass Schwerverletzte mit Schussverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert wurden. So etwas hat es in Kuba seit der Diktatur von Fulgencio Batista nicht mehr gegeben. Das kubanische Regime mutiert zur Tyrannei.
Allerdings gibt es auch Bilder von umgestürzten Polizeiwagen …
Der Protest Am Sonntag hatten Tausende Kubaner in zahlreichen Städten für Freiheit, gegen Unterdrückung und Mangelwirtschaft demonstriert.
Die Reaktion Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel rief am Sonntag dazu auf, die Revolution – sprich: das sozialistische System – auf den Straßen zu verteidigen.
Festnahmen Bis Mittwoch sind nach Angaben unabhängiger Journalisten des Onlineportals 14ymedio mehr als 5.000 Menschen festgenommen worden.
Zugeständnis Díaz-Canel hat am Mittwoch Mitverantwortung der Regierung für die Proteste eingeräumt. Der Umgang mit Versorgungsengpässen und anderen Problemen habe dazu beigetragen. Er kündigte Zollerleichterungen an, damit knappe Güter wie Medikamente leichter eingeführt werden können. (dpa, epd)
Ja, aber die Proteste begannen friedlich. Erst durch das Vorgehen der Sicherheitsbehörden, die Festnahmen, die Gewalt, hat sich das gedreht. Was sind Steine gegen Pistolen, Gewehre und automatische Waffen? Die kubanische Regierung, die noch vor wenigen Wochen die sozialen Proteste in Kolumbien und Chile begrüßt hat, behauptet, dass die gleichen Proteste im eigenen Land von den USA gesteuert würden, und diffamiert die Protestierenden als Verbrecher. Diese Ignoranz wird in Kubas Geschichte eingehen. Fortan gibt es ein Vorher und ein Nachher – der 11. Juli ist eine historische Zäsur. Auf der einen Seite hat die Bevölkerung ihre Angst verloren, auf der anderen Seite zeigt die revolutionäre Regierung ihr zynisches und brutales Gesicht.
Miguel Díaz-Canel galt bei seinem Amtsantritt im April 2018 vielen Kubaner*innen als Mann des Dialogs. Hatten Sie auch die Hoffnung, dass sich in Kuba etwas ändern würde mit dem neuen Mann an der Spitze?
Ja, ich gehörte auch zu denjenigen, die Hoffnung hatten, dass es einen Dialog mit der Zivilgesellschaft geben könnte, um Reformen einzuleiten. Heute ist das vorbei, für mich ist die derzeitige Regierung eine Diktatur. Das war vor wenigen Monaten noch anders. Am 27. November 2020 wurden rund dreißig Künstler und Künstler*innen ins Kulturministerium eingelassen, um zu diskutieren – über die zunehmende Repression, über mehr Freiräume für die Kultur. Es war durchaus fruchtbar und weckte Hoffnungen. Aber eben nur für wenige Stunden. Dann wurde uns brutal vor Augen geführt, dass es diesen Willen zum Dialog auf der anderen Seite nicht gab. Für mich ist seitdem glasklar, dass es die alte militärische Elite um Raúl Castro ist, die die Macht in den Händen hält. Miguel Díaz-Canel ist eine Art Verwalter, der Geschäftsführer, aber über wirkliche Macht verfügt er nicht. Ich bin mir sicher, dass die Militärs, die Comandantes und Generäle von sechzig, siebzig und mehr als achtzig Jahren letztlich in Kuba den Ton angeben. Sie haben paramilitärische Strukturen aufgebaut – das ist ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denn auch die Schlägertrupps gehören zur kubanischen Realität. Kuba droht ein Bürgerkrieg, und die Verantwortung dafür trägt die alte Garde hinter Miguel Díaz Canel.
Die internationale Aufmerksamkeit ist groß. Menschenrechtsorganisationen, auch die UN, Washington und Berlin haben an die Regierung in Havanna appelliert. Bisher ohne Erfolg – was für Folgen könnte das haben?
Ich hoffe, dass die Verantwortlichen sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. Es gibt Experten, die Beweise sammeln, eine Klage vorbereiten. Ein Präsident, der behauptet, dass die Eskalation der Gewalt habe passieren müssen, ist untragbar. Das Regime wird sich nicht halten können. Die kubanische Revolution hat ihre letzte Glaubwürdigkeit verloren.
Sie gehören dem Movimiento San Isidro an, einer 2018 entstanden Künstler*innengruppe, die gegen das Gesetz 349 und die Regulierung der Kunst entstanden ist. Wie viele der rund zwanzig Mitglieder wurden festgenommen?
Alle, mit Ausnahme von mir, weil ich gerade Familienangehörige in Italien besuche. Die ersten wurden aus der Haft entlassen, stehen aber wie der Dichter Amaury Pacheco unter Hausarrest. Ein Soldat steht vor seiner Haustür und lässt ihn nicht passieren. Luis Manuel Alcántara, eines der Gesichter unseres Protest, befindet sich nach wie vor in Haft. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er nicht freikommt, weil er viele Menschen mobilisieren kann und das auch wiederholt getan hat. Ich habe den Eindruck, dass die Behörden wirklich alle, die sich engagiert haben für Reformen in Kuba, festgenommen haben. Das zeigt, dass die Behörden nicht wissen, wie sie mit den Protesten umgehen sollen.
Glauben Sie, dass die Regierung einlenken und den Dialog suchen wird?
Nein, ich denke, dass das nicht passieren wird, bevor Raúl Castro stirbt. Die Tatsache, dass Miguel Díaz-Canel zum Kampf aufgerufen hat, ist de facto der Aufruf zum Bürgerkrieg – das ist ein Verbrechen. Ich kann mir derzeit nicht vorstellen, dass er eine Rolle rückwärts machen wird, und auch stellt sich die Frage, wer ihm dann noch glauben wird. Auch die Ankündigung von Zollerleichterungen für Nahrungsmittel und Medikamente ist nicht mehr als ein Trostpflaster. Zum einen reisen derzeit kaum Menschen nach Kuba ein, zum anderen ist das nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Bedarf ist immens, und die Corona-Infektionszahlen könnten sich durch die Proteste noch einmal sprunghaft erhöhen.
Sehen Sie einen Ausweg aus dieser massiven politischen Krise? Wie lässt sich ein Bürgerkrieg und der sich abzeichnende Konflikt unter Kubaner*innen abwenden?
Im Vorfeld des Treffens mit dem Vizekulturminister Fernando Rojas im November 2020 haben wir vom Movimiento San Isidro mit anderen Künstler*innen und Intellektuellen an einem Konzept für den Dialog und eine kubanische Transition gearbeitet. Es hängt fast alles vom politischen Willen der Verantwortlichen ab. Sie müssen entscheiden, ob sie die Zukunft Kubas gemeinsam mit der Zivilbevölkerung und den 3 Millionen im Ausland lebenden Kubaner*innen gestalten wollen. Dazu gehört aber auch eine offizielle Entschuldigung der Regierung und so etwas wie eine Wahrheitskommission wie in Südafrika als Grundlage für einen Prozess der Versöhnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen