Kritik an der queerfeministischen Szene: Beißreflexe fast ausgeblieben
In der Hamburger Roten Flora ist der Eklat ausgeblieben: Bei der Vorstellung des Buches „Beißreflexe“ blieben KritikerInnen vor der Tür. Das Konfliktpotential war dennoch spürbar
Der Raum in der Roten Flora ist an diesem Frühsommertag so aufgeheizt wie die Debatte um den Sammelband „Beißreflexe“, den die Geschlechterforscherin Patsy l'Amour laLove herausgegebenen hat und vorstellen wird. Es kursierte das Gerücht, dass Kritiker*innen des Buches die Veranstaltung in der Flora stören oder gar verhindern wollten.
Die Veranstalter der linken Theorie-Zeitschrift Phase Zweisind deshalb nervös. Angespannt lässt einer der Organisatoren seine Blicke durch den Raum schweifen und beobachtet die Anwesenden. Könnte von ihnen eine Gefahr für die Veranstaltung ausgehen?
Das Buch übt Kritik an queerem Aktivismus und den dort beobachteten autoritären Sehnsüchten und Sprechverboten. Die Szene sei kritikunfähig und verbiete Menschen das Wort, weil sie zu „privilegiert“ seien, um sich äußern zu können – etwa weiße Personen, „Cis“-Männer und -Frauen, also Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, oder Homosexuelle. Oftmals zähle nur, wer spricht und nicht das, was gesagt wird, kritisiert l'Amour laLove.
Der linke Buchladen im Schanzenviertel legt das Buch nicht in seinem Geschäft aus. In den sozialen Netzwerken sah sich l'Amour laLove heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Ihr wurde mehrfach Gewalt angedroht.
Buchvorstellung als „Place-to-Be“
An diesem Abend trägt Patsy l'Amour laLove eine schwarze Perücke, ein Paillettenkleid und Ketten und Armreifen in Pink und Lila. Ihre Arme sind voll von Tätowierungen. Neben ihr sitzen zwei Autorinnen des Buches, Caroline A. Sosat und Koschka Linkerhand, auf dem Podium.
Die Reihen vor ihnen sind proppenvoll – so voll, dass nicht alle hinein konnten. Etwa 120 Frauen und Männer sitzen brav auf den Stühlen, andere auf dem Boden des mit Graffiti-Tags und Antifa-Stickern verzierten Raumes. Viele tragen die typischen Antifa-Shirts, einige Piercings, kaum einer Dreadlocks. „Das scheint heute der Place-to-be zu sein“, sagt eine Teilnehmerin. Viele sind wohl auch aus Neugier und Schaulust gekommen, um zu bestaunen, ob es tatsächlich zu Ärger auf der Veranstaltung kommt. Es wird Bier, Limo und Mate getrunken. Der Soundcheck einer Punk-Band dröhnt aus dem unteren Stockwerk nach oben.
Vor der Buchvorstellung verliest ein Mann ein Statement. Es stammt vom Plenum der Roten Flora. Dort sei eine kontroverse Debatte darüber geführt worden, ob die Veranstaltung abgesagt werden solle. Das Buch sei von Kritiker*innen als transphob und rassistisch bezeichnet worden. Diese Gruppe sei der Ansicht, dass solche Inhalte in der Roten Flora keine Bühne bekommen sollten.
Doch der Sprecher erklärt: „Die in dem Buch formulierte Kritik ist Teil eines inner-linken Positionsrahmens und Teil einer queer-feministischen Debatte.“ Die Rote Flora solle ein Ort für „linksradikale, selbstkritische Auseinandersetzung“ sein. Deshalb werde die Debatte begrüßt und solle weitergeführt werden. Einige klatschen.
Auch auf die „Diskussionsregeln“ weist einer der Veranstalter eigens hin. „Lebhaft aber respektvoll“ solle diskutiert werden. „Greift bitte sachlich das Argument und nicht die Person an“, sagt er, was vom Publikum unkommentiert zur Kenntnis genommen wird. Solche, eigentlich als selbstverständlich geltenden Regeln, waren im Vorfeld in der Debatte um „Beißreflexe“ teilweise außer Kraft.
Tofu-Würstchen als Protest
Der Protest aber bleibt am Freitag sehr klein. Eine Gruppe von etwa zehn Leuten hat zu einem „queer-feministischen Cornern“ aufgerufen, bei dem man sich auf der Straße trifft, trinkt und zusammen rumhängt. Und das machen sie dann auch: Die in Schwarz, Lila oder im Leopardenmustern gekleideten DemonstrantInnen haben einen Grill vor der Flora aufgestellt, mit Tofu-Würstchen, trinken Bier und verteilen Flyer mit der Aufschrift „Solidarisch, Offen und Friedlich“. Damit beziehen sie sich auf die Kritik von Hengameh Yaghoobifarah, Redakteurin des Missy Magazines und taz-Kolumnistin, die in einem Interview das Buch als „unsolidarisch“ bezeichnete.
Den Vorwurf weist Patsy l'Amour laLove zurück: „Was ist das für eine Solidarität, bei der ich keine Kritik äußern darf?“, fragt sie. Durch die Reaktionen auf das Buch sieht sie ihre These der Kritikunfähigkeit von Teilen der queeren Szene bestätigt. „Ich möchte die Sprachlosigkeit in der queeren und der linken Szene durchbrechen“, sagt sie und prangert an, dass in queeren und linken Kontexten die bloße Anwesenheit von weißen Menschen schon als Machtausübung aufgefasst werde.
Die Auseinandersetzung um das Critical-Whiteness-Konzept wurde bis in die taz hinein geführt: Im Februar schrieb Christian Jakob in einer Reaktion auf einen Text von Yaghoobifarahvon einer „rassifizierten Linken“, in der dieser Ansatz mehrheitsfähig sei. An diesem Abend in der Roten Flora aber ist das nicht so. Vielen scheint die Kritik an ebendiesem Konzept ein großes Bedürfnis. Viele wirken erleichtert.
Patsy l'Amour laLove war der angespannten Atmosphäre mit Witz begegnet: Als sie zu Beginn des Diskussionsteils um Ruhe bittet, fragt sie ironisch „Ist das jetzt schon ein Sprechverbot?“ Das brachte die Anwesenden auf ihre Seite. Auch bei der Vorstellung ihrer Buchbeiträge ernten die Referent*innen tosenden Applaus, als wären sie Popstars. Es kommt weder zu Zwischenrufen noch zu Interventionen der Teilnehmenden.
Zu einem wirklichen Meinungsaustausch mit den Kritiker*innen von „Beißreflexe“ kommt es deshalb nicht. Im Diskussionsteil der Veranstaltung werden wohlwollend viele inhaltliche Nachfragen gestellt. Von der harschen Kritik im Vorfeld ist hier nichts zu merken.
Aufblitzen des Konflitkpotentials
Nur einmal, als aus dem Publikum heraus gefragt wird, wann ein ähnlich kritische Auseinandersetzung mit der linken Szene aus der schwarzen Community zu erwarten sei, blitzt das Konfliktpotential der Debatte auf. „Was ist dein Problem, Alter?“ schreit eine junge Frau aus dem hinteren Teil des Raumes dem Fragenden entgegen – wohl, weil ein weißer Mann über die schwarze Community spricht.
Patsy l'Amour laLove sieht in dem kleinen Vorfall die „Beißreflexe“ der Szene bestätigt: „Das war doch eine unverfängliche Frage“, stellt sie klar. „Er wurde nur aus einem Reflex heraus attackiert, weil er das Wort ‚schwarz‘ gesagt hat, und dieses Wort ist nicht rassistisch.“ Außer diesem Zwischenfall bleibt das Publikum sehr ruhig. Es herrscht andächtige Stille, diszipliniert wird das Frage-Antwort-Spiel eingehalten, ganz so, wie zuvor noch einmal erklärt.
Hierarchische Sprechpositionen?
Für eine Teilnehmerin, die in Kontakt mit den Organisator*innen des Protestes steht, ist klar, dass die Kritiker*innen des Buches an diesem Abend bewusst ferngeblieben sind. „Die Veranstaltungsstruktur verunmöglicht eine wirklichen Austausch von Argumenten“, sagt sie. „Die Referent*innen auf dem Podium haben eine hierarchische Sprecher*innenposition, die in diesem Rahmen schwer aufzubrechen ist.“
Ein anderer Teilnehmer pflichtet dem bei. „Es wäre sicherlich für eine Diskussion förderlich gewesen, wenn es ein Koreferat einer queeren Aktivistin gegeben hätte“, sagt er. Viele andere Anwesende des Abends sind froh über das Buch und die Debatte. „Diese Diskussion ist längst überfällig und betrifft nicht nur die queere, sondern ganz allgemein die linke Szene“, sagt einer.
Der erwartete Eklat bleibt aus. Doch der Abend zeigt, dass „Beißreflexe“ einen wunden Punkt in der linken Szene getroffen hat.
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