Krisen und wie wir damit umgehen: Was lernen wir aus dem Kriegsjahr?
Wir brauchen eine gute Geschichte unserer Zukunft – und wir müssen uns entscheiden, wofür wir uns engagieren wollen. Und nicht, wogegen wir kämpfen.
![Ein Gabestapler mit den zwei Skulpturen «Bulle & Bär». Ein Gabestapler mit den zwei Skulpturen «Bulle & Bär».](https://taz.de/picture/5952416/14/31147309-1.jpeg)
N ichts auf der Welt ist mächtiger als eine gute Geschichte. Unser bundesrepublikanisches Problem ist: Wir sind eine gute Geschichte gewesen, haben aber keine gute Geschichte unserer Zukunft mehr zu erzählen. Keine gemeinsame, keine mehrheitsfähige, während die alte vor unseren Augen zerbröselt.
Was speziell wir Möchtegern-Weltretter gut draufhaben, sind schlechte Geschichten.
Schlecht, weil sie ein schlimmes Ende selbsterfüllend prophezeien – also: Klimakatastrophe, Abstieg des Westens, Nazis reloaded, insgesamter sozialer Abstieg. Und schlecht, weil sie nicht funktionieren im Sinne einer guten Geschichte – also: „Weniger“ haben kann ganz toll sein, Leute, oder ist halt jetzt Bürgerpflicht. So läuft das nicht. Verzicht ist verständlicherweise eine Zumutung für eine liberaldemokratische Fortschrittsgesellschaft, die gerade erst begreift, dass ihre sozialen und emanzipatorischen Errungenschaften auf zukunftszerstörendem Verbrennen von fossilen Energien und freiheitsgefährdenden Abhängigkeiten von russischem Gas und chinesischem Markt beruhen.
Am Ende dieses schlechten Jahres merkt man, dass viele durchhängen und manche hoffen, sie könnten jetzt wieder richtig schön GEGEN etwas KÄMPFEN. Aber das ist das falsche Paradigma. Man kann nicht gegen den Klimawandel kämpfen. Zukunft werden wir nur gewinnen, wenn wir uns FÜR etwas entscheiden und uns dafür engagieren – und den Begriff des Kämpfens ersetzen durch komplexe, aber produktive Prozesse der Veränderung. Kämpfen können muss man allerdings in einem konkreten Fall: Wenn eine feindliche Armee einen angreift.
Klima und Krieg sind für Daniel Cohn-Bendit die miteinander verwobenen Begriffe des Jahres 2022, das uns gezwungen hat, Dilemmata-Entscheidungen zu akzeptieren, die zu einem erwünschten und gleichzeitig unerwünschten Ergebnis führen. Konkret meint das die aus dem russischen Angriffskrieg folgende Wirtschafts- und Energiepolitik von Vizekanzler Robert Habeck, die die Versorgungssicherheit für Unternehmen und Leute gewährleistet, aber klimapolitisch eben auch Nachteile hat. Geopolitisch notwendige Handlungen wie die Unabhängigkeit von Russland verengen erst mal sozialen und ökologischen Fortschritt.
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Das betrifft auch die Renovierung der Bundeswehr, die viel Geld kostet, von dem man dachte, man könne es besser einsetzen, und das nun anderswo fehlen wird. „Wir sind im ersten Jahr des Lernens, in solchen Dilemmata zu denken und politisch zu agieren“, sagt Cohn-Bendit, der selbst einen weiten Weg gegangen ist von den 68er-Barrikaden über das Werben für den militärischen Nato-Einsatz im Jugoslawienkrieg bis heute.
Aus dem adornitischen Kritiker-Off der Haltungsmilieus müsste es spätestens jetzt routiniert schallen, dass das alles „doch gar nicht geht“. Ja, es gibt wirklich schlimme Dinge, die nicht gehen und verhindert werden müssen, aber der kulturell-geistige Wechsel 2023 besteht in der Hinwendung zur Leitfrage: Was geht? Mit wem geht es, wie geht es, was kann ich dafür TUN?
Es ist eben nicht nur scheiße, dass die fossilen Speicher voll sind, es ist auch eine starke Leistung, weil es eben nicht mehr „normal“ ist, dass die Heizung mit russischem Gas läuft, während wir kuschlig erregt über Sprachvergehen in Facebook-Replies streiten.
Das bringt mich zu einer weiteren unangenehmen Notwendigkeit: Wir müssen als diverse und vielfältige Mehrheitsgesellschaft – ohne andere auszubauende Bereiche zu denunzieren – in neuen Prioritäten denken und handeln. Das heißt: Wärmepumpe ist drängender als Gendersprache.
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