Krise in Algerien: Haft für einstigen Strippenzieher
Saïd Bouteflika, Bruder des abgetretenen Langzeitpräsidenten Algeriens, galt als Nummer eins im Land. Nun kommt er hinter Gitter.
Das Militärtribunal in der Stadt Blida bestätigte damit erstinstanzliche Urteile vom September. Auf freien Fuß kam die zunächst ebenfalls zu 15 Jahren Haft verurteilte Politikerin Louisa Hanoune, Chefin der linken Oppositionspartei PT (Arbeiterpartei). Ihre Strafe wurde auf neun Monate reduziert, die sie bereits abgesessen hat.
Das Militärverfahren war eine Folge der Massenproteste in Algerien, die ihren Höhepunkt am 2. April 2019 mit dem Rücktritt des schwerkranken Präsidenten Abdelaziz Bouteflika nach zwanzig Jahren im Amt fanden. In den Jahren zuvor hatte Saïd Bouteflika als Strippenzieher und eigentlicher Entscheider hinter dem seit einem Schlaganfall im Jahr 2013 gelähmt im Rollstuhl sitzenden Präsidenten gegolten.
Als ab Februar 2019 Massenproteste gegen eine Kandidatur Bouteflikas zu einer sechsten Amtszeit das Land erschütterten und Ende März die Armee öffentlich seinen Rücktritt forderte, soll sich Saïd Bouteflika mit den beiden Exgeheimdienstchefs verschworen haben, um den Generalstabschef der Armee, General Gaïd Salah, abzusetzen und die Macht zu behalten.
Proteste gehen weiter
Das ging schief, Präsident Bouteflika trat zurück und Salah wurde Interimspräsident. Er ließ seine Gegenspieler festnehmen und organisierte Wahlen – gegen den Willen der Protestbewegung, die den Rückzug des Militärs und einen demokratischen Übergang forderte. Die Wahlen am 12. Dezember brachten den militärtreuen Abdelmajid Tebboune an die Macht. General Salah starb elf Tage später.
Vor Gericht behauptete Saïd Bouteflika, er sei bloß Berater und „Vertrauensperson“ seines Bruders gewesen. Die beiden Exgeheimdienstchefs machten keine Aussage.
Die freigelassene Louisa Hanoune verließ noch in der Nacht zum Dienstag das Gefängnis. Die Verteidiger der beiden verurteilten Exgeheimdienstchefs sprachen von einer „schweren Strafe“, die der „politischen Konjunktur“ geschuldet sei. Die Verurteilten, sagten sie, seien „Geiseln der Hirak“, wie die Protestbewegung in Algerien heißt. Deren Vertreter allerdings haben das Militärverfahren, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, als Farce bezeichnet, bei dem lediglich ein paar Bauernopfer gebracht würden, um das korrupte Machtsystem zu retten.
Am Dienstag demonstrierten in mehreren algerischen Städten erneut zahlreiche Menschen. Sie forderten eine unabhängige Justiz und die Freilassung inhaftierter Demonstranten. Auch am Freitag will die „Hirak“-Bewegung wieder massiv auf die Straße gehen – am kommenden Wochenende jährt sich der Beginn der Massenproteste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands