Neuer Zulauf für Massenproteste: Algeriens Jugend will mehr

Bisherige Zugeständnisse der Staatsführung reichen den Demonstranten nicht aus. Sie fordern den Rücktritt von Armeechef Ahmed Gaïd Salah.

Mehrere Menschen rufen etwas und heben die Arme

Proteste gegen die algerische Regierung am 15. Oktober in Algier Foto: reuters

BERLIN taz | Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika ist zurückgetreten. Premierminister Ahmed Ouyahia ist wegen Korruption angeklagt und inhaftiert. Exgeheimdienstchef Mohamed „Tewfik“ Mediène und sein Nachfolger Athmane Tartag wurden von einem Militärgericht zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Seit vergangenem April wurden in Algerien mehr als 30 Spitzenpolitiker, hochrangige Militärs und gut vernetzte Geschäftsleute verhaftet und müssen sich wegen Korruption, Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Verschwörung vor Gericht verantworten. Auf regionaler und kommunaler Ebene sieht es ähnlich aus. Dutzende Bürgermeister, lokale Polizeichefs und hohe Beamte wurden entlassen oder verhaftet und müssen sich unangenehme Fragen gefallen lassen.

Seit Beginn der friedlichen Massenproteste gegen Algeriens Staatsführung im Februar sind damit unzählige Profiteure der alten Ordnung politisch kaltgestellt und inhaftiert worden oder ins Ausland geflohen. Doch die Protestbewegung will mehr und mobilisiert allwöchentlich für einen echten politischen Wandel.

Liberale, Linke und Konservative, Jugendliche und Rentner, Einkommensschwache und die Mittelschicht: Sie alle geben sich nicht mit den Knochen zufrieden, die ihnen der immer mächtiger werdende Armeechef Ahmed Gaïd Salah bisher vor die Füße geworfen hat. Sie wollen seinen Rücktritt und rufen daher auch am symbolträchtigen 1. November wieder zu landesweiten Großdemonstrationen auf.

Großes Tamtam

Im Herbst 1954 begann der Unabhängigkeitskrieg gegen die französische Kolonialmacht. Alljährlich zelebriert Algeriens Staatsführung dieses Datum mit großem Tamtam, zieht sie doch einen Großteil ihrer Legitimität aus dem Kampf gegen das Kolonialregime, das das Land 132 Jahre ausgebeutet hatte.

Doch der Lack ist ab. Algeriens Jugend gibt sich nicht mehr mit den heroischen Geschichten zufrieden und erkennt in den heute vor allem von Gaïd Salah repräsentierten postkolonialen Eliten eine Art Wurmfortsatz des Kolonialregimes.

Die seit Algeriens Unabhängigkeit 1962 regierende Staatsklasse, ein intransparentes und korruptes Geflecht aus Sicherheitsapparat und politischen Eliten, habe den Kolonialismus nicht beseitigt, sondern sich an dessen Stelle gesetzt. So lautet das immer populärer werdende Narrativ auf den Straßen.

Schon seit Wochen werden bei Protesten Parolen aus Zeiten des Antikolonialkampfes skandiert. Auch andere während des Unabhängigkeitskrieges bekannt gewordene Protestform – wie das zu einer verabredeten Uhrzeit kollektiv vollzogene Einschlagen auf Töpfen – erleben derzeit eine Wiedergeburt.

Abermaliges Kräftemessen

Die heutigen Proteste sind mehr als nur ein abermaliges Kräftemessen zwischen Protestbewegung und Staatsführung. Der Konflikt hat sich transformiert und von oberflächlichen politischen Forderungen emanzipiert. Es geht auch dialektisch ans Eingemachte. Beide Seiten stehen dabei auf dünnem Eis. Unklar ist, wer zuerst einbricht.

Gaïd Salah beharrt auf der für den 12. Dezember geplanten Präsidentschaftswahl. Protestbewegung und Opposition lehnen den Urnengang unter den gegebenen Voraussetzungen ab. Denn antreten werden nur vormals im Hintergrund agierende Vertreter der alten Eliten wie Ali Benflis oder Abdelmajid Tebboune – beides Ex-Premierminister, die keinen politischen Neuanfang repräsentieren, sondern alte Herrschaftsstrukturen reproduzieren dürften.

Angesichts dessen bekommen die Proteste seit September wieder Zulauf. Während der Staatsapparat zunehmend repressiv gegen Demonstranten und Oppositionelle vorgeht – rund 200 politische Gefangene soll es geben –, erhöht die Protestbewegung den Druck.

Am Montag hatten unabhängige Gewerkschaften und Oppositionsparteien erfolgreich zu einem Generalstreik im öffentlichen Dienst aufgerufen und gezeigt, dass sie an der Forderung nach echten Wandel festhalten.

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