Krise im Libanon: „Große Bewegung nach draußen“
Wegen Hyperinflation, Benzin- und Strommangel möchten viele Menschen den Libanon verlassen. Entsteht eine neue Fluchtroute?
„Ich würde noch nicht von einer Migrationsroute sprechen“, sagt Anna Fleischer, Direktorin des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. So waren etwa Ende Juli 88 Menschen von Tripoli im Norden auf einem Boot nach Zypern aufgebrochen und vor Zypern aufgegriffen worden. Der zypriotischen Küstenwache wird vorgeworfen, sie zurückzudrängen, auszusetzen oder zurückzuführen – ohne Möglichkeit auf Asylanträge.
„Diese Route ist extrem vulnerabel, nicht nur durch den Seeweg, sondern weil die Pushbacks zeigen, wie die zypriotische Regierung damit umgeht“, sagt Fleischer. Falls Zypern die Migrant*innen zurückschicke, müssten sie die Route erneut auf unsicheren Booten bewältigen. Momentan gibt es keine Landroute aus dem Libanon heraus. Sämtliche Fluchtwege über das Meer sind allerdings gefährlich: Seit 2014 sind nach Angaben der Flüchtlingsagentur UNHCR über 21.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
„Die Leute, die sich vereinzelt aufmachen, sind eher ein Symptom des Kollapses, der bis jetzt so in Berlin und Brüssel nicht voll angekommen ist“, sagt Fleischer. Die lokale Währung hat seit der schon zwei Jahre dauernden schweren Wirtschafts- und Finanzkrise mehr als 90 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Es mangelt an Medizin, Benzin und Strom.
Im Land leben 1,5 Millionen Geflüchtete
Im Libanon leben rund 6 Millionen Menschen, rund 1,5 Millionen davon sind syrische Geflüchtete. Entwicklungsgelder hatten bisher viele Syrer*innen im Land gehalten. Auch Deutschland investierte in Infrastrukturprojekte, um Fluchtursachen zu verhindern. Doch wegen Corona haben Tagelöhner ihre Arbeit verloren, den Menschen in Geflüchtetencamps fällt dadurch ihr Lebensunterhalt weg. Sie sehen deshalb die Boote nach Europa als letzten Ausweg – aber auch Libanes*innen selbst ergeht es so. Schätzungen der Weltbank zufolge hat seit Herbst 2019 jede*r Fünfte seinen Arbeitsplatz verloren.
Dem Krisenobservatorium der Amerikanischen Universität Beirut zufolge verließen Tausende Menschen das Land seit Beginn der Wirtschaftskrise 2019, mindestens drei Viertel der jungen Libanes*innen wollten auswandern.
„Natürlich sind jetzt nicht alle aufgebrochen, aber es gibt eine große Bewegung nach draußen“, sagt Fleischer. Europa ist nicht der einzige Anlaufpunkt: In ihrem Umfeld habe fast jede*r eine Bewerbung in Kanada laufen, da das Migrationsverfahren dort übersichtlich sei, so Fleischer. Die Privatwirtschaft fasse den Handel in Afrika ins Auge, Möbel- und Kosmetikfirmen oder PR Agenturen orientierten sich an der Kundschaft im Golf. „Allerdings merken die Libanes*innen, dass ihr Marktwert sinkt, auch Ärzt*innen bekommen in anderen Ländern niedrigere Löhne angeboten.“
Schwer haben es zudem Arbeiter*innen aus dem Sudan, Äthiopien oder den Philippinen. Sie kamen in den Libanon, um zu arbeiten und ihren Familien in der Heimat US-Dollar zu schicken. Weil das sonst gängige Zahlungsmittel im Land nicht mehr verfügbar ist, sitzen viele vor den Botschaften ihrer Länder und warten darauf, ausgeflogen zu werden. Von ihren Arbeitgeber*innen wurden sie vor die Tür gesetzt.
Die Vereinten Nationen (UN) haben ihre Hilfsgeldzahlungen auf Lira umgestellt. Im Juni wurde bekannt, dass die Banken durch schlechte Umrechnungskurse Gewinne machten, während die Empfänger*innen insgesamt über 200 Millionen US-Dollar weniger bekamen.
Für Syrer*innen ist es auch schwer und gefährlich zurückzugehen. Für Männer gilt noch immer der Militärdienst, wer sich dessen durch Flucht verweigert hat, kann im Gefängnis landen. Das Assad-Regime bestraft Rückkehrende mit Folter. „Gerade Frauen haben starke Angst vor sexualisierter Gewalt seitens des Regimes“, sagt Fleischer.
Deutschland hat seit 2012 insgesamt 825 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Libanon bereitgestellt, davon allein im Jahr 2020 fast 150 Millionen Euro. Weitere 335 Millionen Euro stehen bereit. Sie werden laut Auswärtigem Amt ausgezahlt, „wenn es wieder eine handlungsfähige libanesische Regierung gibt, die die politischen und wirtschaftlichen Reformen durchführt“.
Als Konsequenz des Geldflusses sollten außer den bereits etwa aus Syrien nach Libanon Geflüchteten auch die Aufnahmegemeinden mitgedacht werden, so Fleischer. Die Böll-Stiftung lege ihren Fokus darauf, lokale Akteur*innen zu stärken – beispielsweise in der Ausformulierung von Reformen oder Ansätzen, das Wahlsystem demokratischer zu gestalten. „Der Staat ist nicht funktionsfähig. Aber ich bin überzeugt, dass es immer noch Menschen in diesem Land gibt, die eine Alternative darstellen zu der Elite, die sich entschieden haben zu bleiben und die weiterhin an einer besseren Zukunft arbeiten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste