Krieg um Libyens Hauptstadt beendet: Durchatmen und durchladen
Die regierungstreuen Milizen in Tripolis feiern ihren Sieg über die Haftar-Rebellen. Nun tobt die nächste Schlacht: um Gaddafis Heimatort Sirte.
Berufsschuldirektor Ali Arashi lebt im Stadtteil Suk Aljuma unweit des Flughafens Mitiga, den die regierungstreuen Milizen vergangene Woche von der LNA zurückerobert hatten. Immer wieder hatten zuletzt Grad-Raketen das Haus seiner Familie nur knapp verpasst. Mehrere Nachbarn starben durch die verirrten LNA-Geschosse, die eigentlich gegen die türkischen Soldaten in Mitiga gerichtet waren.
„Dank der türkischen Intervention ist der Krieg vorbei, das Projekt Haftar ist für uns beendet“, sagt der 65-jährige. Er ist mit seinen Enkelkindern gekommen, wie sonst jedes Jahr am 17. Februar, dem Jahrestag der Revolution. Doch von Euphorie ist jetzt nicht viel zu spüren.
2011 hatten die Kämpfe um Tripolis nur wenige Tage gedauert. Der jetzt beendete Krieg um die Hauptstadt hat seit April 2019 über 1000 Tote gefordert, mehr als 190.000 Menschen sind aus dem Kampfgebiet geflohen. „Und auch wenn jetzt Haftar weg ist, die Milizen sind immer noch da“, sagt ein Freund von Ali.
Die vier großen Milizen, die die Hauptstadt und auch die Regierung dort kontrollieren, demonstrierten auf dem Märtyrerplatz ihre erbeuteten russischen Waffen, ihren Sieg und ihren Machtanspruch. Doch viele Tripolitaner haben genug von der Machtwillkür beider Kriegsparteien. Da nur wenige Libyer bereit waren, für eine der beiden Seiten zur Waffe zu greifen, musste sowohl General Haftar als auch Ministerpräsident Serradsch ausländische Söldner anheuern, vor allem aus Syrien.
Unter den in ihre Häuser zurückkehrenden Familien in Tripolis ist die Stimmung gedrückt. Viele Minen und Sprengfallen in den lange umkämpften südlichen Bezirken sind noch nicht geräumt. Allein am Sonntag gab es zwei Tote und 6 Verletzte in Ein Zara. „Die Kriege der letzten Jahre haben nur Leid gebracht und eine verlorene Generation von jungen Libyern, die keinen Beruf gelernt haben, weil sie bei Milizen gutes Geld verdienen konnten“, sagt Ali Arashi.
Die ostlibyschen Soldaten und ausländischen Söldner der LNA ließen in den Städten Tarhuna und Beni Walid südlich von Tripolis, ihren letzten Hochburgen vor dem Totalrückzug, viele schwere Waffen und Munition zurück. Auf sozialen Medien kursieren Videos mit Kämpfern der Einheitsregierung aus Tripolis vor russischen Kampfhubschraubern und noch verpackten schultergestützten Sam- Luftabwehrraketen.
Haftar steht vor einem Scherbenhaufen
Lange hatte Feldmarschall Haftar wie der sichere Sieger des Bürgerkrieges ausgesehen. Vor allem die aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gelieferten russischen Pantsir-Raketen und chinesischen Wing-Loong-Drohnen garantierten seiner LNA die Lufthoheit. Doch mit dem im November geschlossenen militärischen Beistandspakt zwischen dem türkischen Präsidenten Tayiib Erdogan und dem libyschen Premierminister Fayez Serradsch wendete sich das Blatt. Türkische Militärberater, per Schiff gelieferte Panzer und angeblich mehr als 5000 syrische Söldner brachten Haftars Vormarsch zum Erliegen.
Nun steht Haftar vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Während sich seine flüchtigen Kämpfer in Ostlibyen neu formieren, reiste der General am Samstag zusammen mit Aguila Saleh, dem Präsidenten des in Ostlibyen tagenden libyschen Parlaments, nach Kairo – Ägypten ist neben den Emiraten der wichtigste Verbündete der Haftar-Allianz.
Bei einer Pressekonferenz mit seinen libyschen Gästen verkündete Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi einen ab Montag um 6 Uhr geltenden Waffenstillstand, den Beginn von Friedensverhandlungen in Genf und den Abzug der ausländischen Kämpfer aus Libyen – eine „Kairo-Initiative“, um den Krieg im Nachbarland zu beenden.
Haftar und Saleh blieben dabei weitgehend stumm. Ihr Schweigen spiegelte nicht nur ihre kritische Lage wieder, sondern auch ihr angespanntes Verhältnis. Saleh, der 2014 bei den letzten Parlamentswahlen Libyens demokratisch gewählt wurde, schlug bereits vor drei Wochen angesichts der türkischen militärischen Übermacht auf der Gegenseite einen Dialog zwischen allen libyschen Provinzen vor. Doch Haftar will von Dialog mit den „Terroristen in Tripolis“ nichts wissen – schon einen Tag nach Salehs Initiative kündigte der General die Entmachtung des Parlamentes und sämtlicher ziviler Institutionen an.
Nun warnen viele Abgeordnete vor einer Militärdiktatur in Ostlibyen. Sie fürchten auch, dass Haftars Kompromisslosigkeit zu einem Angriff der Serradsch-Erdogan-Allianz aus Tripolis auf Bengasi führen wird. In Tripolis gibt man sich von Ägyptens Vorstoß unbeeindruckt. „Wir haben keine Zeit uns mit den Spielchen Haftars zu beschäftigen, er kann sich nur ergeben“, so Innenminister Fathi Bashaga.
Saleh versucht daher, eine Sitzung der 200 Abgeordneten einzuberufen und eine Kompromisslösung zu erörtern. Dafür suchen die Parlamentarier derzeit vergeblich Gehör im Ausland. Der Leiter des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, Yousef Yousef Alaguri klagt gegenüber der taz, dass die Diplomaten von EU und UNO die Bemühungen des Parlaments um einen innerlibyschen Dialogs ignorieren würden.
„Indem man die gewählten Institutionen und die Zivilgesellschaft ignoriert und nur mit denen spricht, die zu den Waffen greifen, riskiert man, dass aus Libyen eine Art Somalia am Mittelmeer wird“, so ein anderer Abgeordneter aus Tobruk zur taz.
„Der Verlierer dieser Eskalation ist die EU“, glaubt Alaguris Mitarbeiter Mustafa Alushaibi. „Wenn sich der Rauch gelegt hat, wird man in Europa feststellen, dass nun die Türkei und Russland an diesem strategisch wichtigen Abschnitt der Mittelmeerküste das Sagen haben.“
Die Schlacht um Sirte
Unklar ist, ob Ägypten und Russland bereit wären, einen Vorstoß der der türkisch-westlibyschen Allianz aus dem Westen Libyens auf die Ölfelder im Osten hinzunehmen. Vieles spricht dagegen. Derzeit befindet sich die Kriegsfront westlich von Sirte an der zentrallibyschen Mittelmeerküste.
Bei den Parlamentariern in Bengasi hofft man, dass die Trennungslinie zwischen beiden Kriegsparteien in Sirte gezogen und von Russland oder Ägypten durchgesetzt wird. Dann wäre Libyen erstmal wieder in Ost und West geteilt.
Am Sonntag nachmittag war die Schlacht um Sirte in vollem Gange. Die unter dem Schutz türkischer Drohnen vorrückenden Serradsch-Truppen wurden, so berichten Beteiligte der taz, plötzlich von modernen Mig-29-Kampfjets angegriffen. Im zentrallibyschen Jufra, Haftars wichtigster Luftwaffenbasis weiter südlich in der libyschen Wüste, wurden vor zwei Wochen angeblich bis zu 14 solche russische Kampfjets über Syrien eingeflogen.
Die von Söldnern geflogenen Jets können nach Meinung von Militärexperten nur mit Unterstützung von Experten der russischen Armee eingesetzt werden. Vor Sirte im Meer liegt derweil eine türkische Fregatte, die gegen Haftars Drohnen über Sirte im Einsatz ist.
Sollte Haftar Sirte halten können, entstünde ein Pattsituation: Öl im Osten, staatliche Institutionen im Westen. Sirte ist als Gaddafis Heimatstadt tief mit Misrata verfeindet, dessen Milizen das Gros der Revolutionäre 2011 und auch der regierungstreuen Kämpfer heute stellen.
Viele Gaddafi-Anhänger aus Sirte saßen nach der Revolution von 2011 in Misrata im Gefängnis. Später nutzten ehemalige Gaddafi-Regierungseliten die Marke „Islamischer Staat“ (IS) für sich, wie zuvor im Irak, und hielten damit die Misratis aus Sirte fern – bis zur erneuten Rückeroberung Sirtes durch die Misrata-Milizen 2016. Vor wenigen Monaten ging die Stadt unblutig an die LNA verloren. Nun tobt der dritte Krieg um Sirte. Vielleicht ist es der wichtigste.
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