piwik no script img

Krieg um BergkarabachNicht wegschauen

Kommentar von Rüdiger Lüdeking

Der Waffenstillstand für Bergkarabach hat wenig Perspektive. Gefragt sind EU und Nato: Sie müssen zwischen Armenien und Aserbaidschan vermitteln.

Arnmenischer Wachposten an der neuen Grenze zur Region Kalbajar in Aserbaidschan Foto: Sergei Grits/ap

D er von Russland am 9. November vermittelte Waffenstillstand hat dem blutigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach zunächst ein Ende gesetzt.

Aber er bietet keinen Ansatz für ein dauerhaftes, sowohl Armenien wie Aserbaidschan befriedigendes Arrangement. Der künftige Status der jetzt durch russische Friedenstruppen gesicherten Teile Bergkarabachs ist völlig offen.

Die Mitgliedsstaaten von EU und Nato haben dem Konflikt bisher teilnahmslos zugesehen. Für sie stellen sich grundlegende Fragen: Dürfen der Einsatz militärischer Gewalt, das Recht des Stärkeren und das Versagen friedlicher Konfliktregelungsmechanismen und der multilateralen Organisationen einfach hingenommen werden?

Aserbaidschan hat durch den Krieg nicht bloß seine territoriale Integrität wiederherstellen und sich das zurückholen wollen, was sich Armenien durch den Krieg 1992–94 genommen hatte. Der Fall liegt komplexer. Es geht im Kern um den Ausgleich zwischen zwei schon in der KSZE-Schlussakte 1975 niedergelegten Leitprinzipien: dem von Aserbaidschan reklamierten Recht auf Integrität seines Staatsgebietes und dem Recht auf Selbstbestimmung der in Bergkarabach lebenden Armenier.

Erdoğan als Profiteur

Nach 1994 hat Aserbaidschan außergewöhnlich große Anstrengungen zur Modernisierung und Aufrüstung seiner Streitkräfte unternommen; dem hatte Armenien, das anders als Aserbaidschan nicht über beträchtliche Einkünfte aus der Erdöl- und Erdgasförderung verfügte, kaum etwas entgegensetzen können. Die Vereinten Nationen und die OSZE haben die untrüglichen Anzeichen für das aserbaidschanische Sinnen auf Revanche für die Niederlage im ersten Krieg um Bergkarabach nicht zur Kenntnis genommen. Zudem haben sie dem Handeln der Konfliktparteien sowie Russlands und der Türkei tatenlos zugesehen. Auch die Nato wäre gefordert gewesen. Sie hätte ihr Mitglied Türkei in die Schranken weisen müssen. Präsident Erdoğan hat in dem Konflikt offenbar die Chance gesehen, sich als Förderer der „muslimischen Sache“ zu gerieren und seinen Einfluss in einer Region auszubauen. Selbst wenn der von Russland überraschend „verordnete“ Waffenstillstand als Zeichen der Stärke und des andauernden Einflusses Russlands im Kaukasus gewertet wird, so hat doch die Türkei durch die Unterstützung Aserbaidschans einen Fuß in die Tür bekommen. Künftige Spannungen und potenzielle Konflikte, von denen auch das Bündnis insgesamt betroffen wäre, sind damit programmiert.

Ein entschiedenes außenpolitisches Engagement ist auch eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit

Es ist nicht einzusehen, warum der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sich nicht mit der Lage um Bergkarabach befasst. Eine zu verabschiedende Resolution sollte nicht nur die militärische Offensive Aserbaidschans und die Kriegstreiberei der Türkei und die langjährige Verletzung der territorialen Integrität Aserbaidschans verurteilen. Besondere Aufmerksamkeit muss auch der Aufklärung und unerbittlichen Verfolgung der Kriegsverbrechen gelten, die vor allem der aserbaidschanischen Seite zur Last gelegt werden. Und schließlich sollte sie auch den Anstoß für die Erarbeitung einer diplomatischen Konfliktlösung geben.

Hierzu wäre insbesondere die OSZE berufen. Sollen ihre Bemühungen nicht wie seit 1994 immer wieder fruchtlos im Sande verlaufen, so muss ihr endlich die notwendige politische Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es bedarf gezielten Drucks, um Armenien und Aserbaidschan an den Verhandlungstisch zu bringen und zu gewährleisten, dass sie sich auf einen Kompromiss einlassen, der den Prinzipien territoriale Integrität und Selbstbestimmungsrecht in fairer Weise Rechnung trägt. Es ist anzunehmen, dass vor allem Aserbaidschan, das sich als Sieger des Krieges fühlt, bestärkt durch die Türkei wenig Veranlassung sehen wird, Konzessionen zu machen.

Eine Aufgabe für die OSZE

Daher dürften hier besonders die EU und die Nato gefordert sein, flankierend Maßnahmen zu ergreifen. Diese sollten erforderlichenfalls auch vor Sanktionen und insbesondere dem Stopp der Ausfuhr militärisch relevanter Güter sowohl nach Aserbaidschan wie in die Türkei nicht Halt machen.

Aber auch die Nato muss ohnehin dem erratischen Verhalten und den Großmachtfantasien des türkischen Präsidenten Erdoğan Einhalt gebieten. Beschwichtigungsversuche haben Erdoğan in seiner Politik, die die Stabilität im Kaukasus, in Zentralasien und im Nahen Osten gefährdet und den Zusammenhalt des Nato-Bündnisses in Frage stellt, nur noch weiter ermutigt.

Und schließlich bedarf Armenien in der aktuell schwierigen Situation des politischen Beistands und humanitärer wie wirtschaftlicher Hilfen. Dies gilt vor allem, um die junge demokratische Entwicklung des Landes zu fördern und es in der exponierten geografischen Lage zu versichern, dass ein neuer Genozid wie 1915 – dessen Gefahr innenpolitisch wieder beschworen wird – nicht droht und es auf westliche Solidarität bauen kann.

Man mag einwenden, dass dies alles angesichts der bestehenden tiefen Feindschaft zwischen Armenien und Aserbaidschan, der Erfahrungen mit der Fähigkeit der OSZE zur Konfliktlösung, aber auch der bisherigen Politik von Nato und EU wohlfeil oder wirklichkeitsfremd klingt. Und dennoch: Entschiedenes außenpolitisches Engagement ist auch eine Frage der außenpolitischen Glaubwürdigkeit. Die einfache Fügung in das realpolitisch Unvermeidliche kommt einer außenpolitischen Abdankung gleich. Apathie und fortgesetztes politisches Lavieren wird der Bedeutung des Krieges um Bergkarabach für die Sicherheit auf unserem Kontinent nicht gerecht. Die nach dem Kalten Krieg im Rahmen der KSZE/ OSZE geschaffene Sicherheitsordnung ist tief erschüttert. Die Mitgliedstaaten der EU (aber auch der Nato) müssen sich endlich zusammenraufen, um außenpolitisch nicht Spielball einzelner Mächte zu sein. Wir müssen uns für ungemütlichere sicherheitspolitische Zeiten wappnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen