Krieg in der Ukraine: Russische Raketen verwüsten Dnipro – Tote und Verletzte
Ein russischer Angriff auf die Stadt Dnipro fordert viele Tote und Verletzte. Der Bürgermeister spricht von einem nie dagewesenen Ausmaß an Zerstörung.

10:58 Raketen fliegen in unsere Region
10:58 Dnipro, Pavlohrad, bringt euch in Sicherheit!
11:00 Achtung, die Zwei-Wände-Regel rettet euch nicht!
11:00 Rakete auf Dnipro!
11:01 Explosionen.
11:01 So weit keine neuen Ziele. Wiederholte Einschläge möglich.
11:03 Rauch am Himmel nach Explosionen.
11:04 Wiederholung!
11:04 Dnipro – RAKETEN!
11:06 Verf*ckte Scheiße. Wir warten auf offizielle Infos.
In den Stunden nach dem Angriff schwebt eine gigantische Rauchwolke über der Stadt.
Um 17:48 Uhr verkündet die Gruppe, dass der Bürgermeister von Dnipro Borys Filatow für Mittwoch Staatstrauer ausgerufen habe. Filatow sprach von einem „noch nie dagewesenen Ausmaß an Zerstörung.“ Bei den Raketenangriffen wurden 17 Menschen getötet und 170 verletzt – darunter auch Kinder.
Ein Brand brach aus, 50 Hochhäuser, Wohnhäuser und Bildungseinrichtungen wurden zerstört: Schulen, Kindergärten, eine Musikschule, eine Berufsschule, eine Kirche, eine Eishalle, ein Krankenhaus und ein Verwaltungsgebäude. Eine Rakete schlug in der Nähe des Passagierzuges Odessa–Saporischschja ein. In den sozialen Medien kursieren Bilder von blutgetränkten Sitzplätzen und zerborstenen Zugfenstern.
Verkohltes Metall
Um kurz vor 8 am Dienstagabend beginnt ein Nieselregen, der zu einem immer stärkeren Prasseln anwächst. Stunden nach dem Raketeneinschlag riechen die Straßen noch nach verkohltem Metall, kilometerweit stauen sich die Feuerwehrautos.
Anatolij Ilienko, 65 Jahre alt, steht mit seiner Frau und seinem Sohn auf einem Rasen eines Plattenbau-Innenhofs aus Sowjetzeiten, ein paar Schritte entfernt von der Hauptstraße „Allee der Freiheit“. Um sie herum erstreckt sich hier am Stadtrand eine riesige Industriezone. Ein Gaswerk verpestet die Luft.
Ilienko trägt ein T-Shirt im Military-Look und eine Stirnlampe. Damit kann er in dem dunklen Gebäude leuchten, das bis heute sein Zuhause war und jetzt keine Fensterscheiben mehr hat. Er hat eine leichte Alkoholfahne. In seiner rußgeschwärzten Hand hält er ein schwarzes Metallteil mit seltsam unregelmäßigen Zacken. „Ein Souvenir von den Russen!“, sagt er. „Kam in unsere Küche geflogen“. Er glaubt, es handele sich um ein Raketenteil.
Anatolij Ilienko, seine Frau Svitlana und ihr Sohn Wladislaw warten zusammen mit dutzenden anderen aus der Nachbarschaft in der Schlange vor einem blauen UNHCR-Zelt. Überall wuseln Ehrenamtliche und Polizist:innen herum und wollen etwas tun.
Ohne Freude
Die Einwohner:innen füllen Formulare aus, um ihren Sachschaden zu dokumentieren und Materialien zur Reparatur zu erhalten: Klebebänder für beschädigte Dächer, Holzplatten, um die zerstörten Wohnhäuser zu verkleiden. Inmitten der Zerstörung plaudert man miteinander und trinkt Limonade. Wie bei einem Straßenfest, nur ohne Freude. Die Familie Ilienko wird heute Nacht bei der Tochter schlafen. Was dann kommt, wissen sie nicht.
Sie hatten Glück im Unglück. Als die Rakete einschlug, war das Ehepaar gerade beim Einkaufen. Der Sohn Wladislaw stand zu Hause am Fenster im vierten Stock und räumte das Zimmer auf. In der Warteschlange versucht er, seine Gefühle zu beschreiben, aber er schüttelt nur den Kopf.
Er habe die Druckwelle des Raketeneinschlags gespürt und sei in die Mitte des Raumes geschleudert worden, schildert er den Moment des Einschlags. Die Fensterscheiben seien zersprungen, der Himmel habe sich vor seinen Augen mit Rauch gefüllt. Er habe seinen Körper abgetastet und festgestellt, dass es ihm bis auf einen leichten Schmerz des Rückens gut gehe.
Als er das Zimmer verlassen wollte, konnte er die Tür nicht öffnen. Ein Schrank war umgefallen und versperrte ihm den Weg. Bis die Eltern heimkamen und ihn befreiten, war er fast eine Stunde lang im Zimmer gefangen. Dann sahen sie, wie einige ihrer Nachbarn aus dem Gebäude herausgetragen wurden. „Ja, Juri ist auf der Intensivstation“, wirft die Frau ein.
Durst nach Normalität
Selbst an diesem tragischen Dienstagabend im vierten Sommer der russischen Invasion dürstet Dnipro nach Normalität. Am Ufer des gleichnamigen Flusses wirbt ein Zirkus für seine Pinocchio-Performance. Alte Frauen mit bunten Kopftüchern preisen ihre Blumen und Kirschen an, Pärchen sitzen in Restaurants, schlürfen Austern und nippen an ihren Cocktails. Niemand weiß, wie lange all das noch weiter gehen wird. Alle sind erschöpft, gefangen in den Strömen ihrer Stadt und ihrer Zeit.
20 Autominuten von dem Zuhause der Ilienkos entfernt liegt das Krankenhaus Mechnikow. Ein lang gezogenes Gebäude mit neun Stockwerken und mehreren Blocks, gesäumt von Dutzenden Krankenwagen. Von der Front aus ist das Krankenhaus eines der nächstgelegenen. Tagein, tagaus kämpfen hier verwundete Soldaten um ihr Leben.
Auf der Intensivstation beendet Anatoli Jaroslawowitsch, ein Mann mit dunkelblauem Arztkittel und traurigen Augen, gerade seine Schicht. Bevor er von seinem Tag erzählt, setzt er in klassisch ukrainisch ironischer Manier an: „Unsere Freunde sind heute schwer damit beschäftigt, dass alle in dieser Stadt leiden.“ Die Freunde, das sind die Russen.
Jaroslawowitsch, Chefarzt auf der Station, führt in ein Vierbettzimmer und deutet auf die Patienten. Hier liegen einige der Schwerverletzten des Raketenangriffs. Sie wurden gerade erst notoperiert, ihre Gesichter sind entstellt. Einigen fehlen die Augen. Einer wurde eingeliefert und starb sofort.
Direkt in den OP
„Schweres Gehirmtrauma, Riss in den neuronalen Verknüpfungen“, sagt Jaroslawowitsch. „Und der hier“, er macht eine vage Handbewegung nach rechts, „der kam mit seinen Eingeweiden nach außen gekehrt hier an und direkt auf den OP-Tisch!“
Während die Stadt um ihre Toten trauert, ist es für Anatoli Jaroslawowitsch ein ganz gewöhnlicher Tag. Wenn es nicht Zilivist:innen sind, die hergebracht werden, dann sind es Soldat:innen.
Am gleichen Abend sitzen 32 Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedstaaten im Ballsaal des Palais in Den Haag beisammen und speisen angeschmorten Thunfisch an Sauergurkenmousse mit mariniertem Gemüse, Schnittlauchcreme und knuspriger Zwiebel. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist dort. Er sitzt nicht neben Donald Trump.
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch heulen in Dnipro um 1:01 Uhr wieder die Sirenen. „Achtung“, warnt eine automatisierte Stimme aus der Handy-App die Ukrainer:innen. „Suchen Sie den nächsten Schutzraum auf! Seien Sie nicht leichtsinnig! Ihr übermäßiges Vertrauen ist Ihre größte Schwäche!“
Am nächsten Morgen auf der Station: „Wir sind Minus zwei“, sagt Anatolij Jaroslavovitsch. Unter den Verstorbenen ist auch der mit dem Hirntrauma. Der mit den Innereien sei stabil, er wird am Leben bleiben. Ihm stehen noch viele Operationen bevor.
Die Berichterstattung wurde von Women on the Ground der International Women’s Media Foundation in Zusammenarbeit mit der Howard G. Buffett Foundation unterstützt
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