Krieg in der Ukraine: Polen in Führungsrolle
Der russische Krieg gegen die Ukraine bringt Polen und westliche EU-Staaten einander näher. Innenpolitisch ändert sich im Nachbarland allerdings nichts.
Wir hätten auf die Polen hören sollen“, sagt uns ein deutscher Journalist in einem Berliner Café. Solche Formulierungen sind in letzter Zeit alltäglich geworden. Ursula von der Leyen, die Chefin der Europäischen Kommission, hat sich ähnlich geäußert und auch die finnische Regierungschefin Sanna Marin. Worte der Reue werden gegenüber Warschau und anderen Ländern laut, die vor Moskaus Expansionspolitik gewarnt hatten.
Dabei geht es nicht nur um das russische Gas, sondern auch um die Würdigung der dunklen Erfahrung des russischen Imperialismus, der in Polen und anderen Ländern der Region seit 300 Jahren präsent ist. Trotz der dramatischen Situation fällt es uns schwer, nicht eine gewisse Genugtuung darüber zu empfinden, dass endlich die osteuropäische Sichtweise berücksichtigt wird. Nur dass die Angelegenheit im Falle Polens besonders heikel ist. Kann ein illiberales Land die Richtung in der EU-Politik vorgeben?
Bis vor Kurzem nahmen Warschau und Budapest zwar schon eine Führungsrolle ein – allerdings nur für den illiberalen Populismus. Vor allem Budapest erregte die Aufmerksamkeit als Vorhut dieser populistischen Revolution. Gideon Rachman hat in seinem Buch „The Age of the Strongman“ darauf hingewiesen, dass Viktor Orbán unter nichtliberalen Politikern einer der prominentesten ist.
Aber die Situation hat in letzter Zeit verändert. Polen befand sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in einer neuen geopolitischen Situation. Die geopolitische Schwäche, die jahrhundertelang in der Nähe zu Russland bestand, erwies sich plötzlich als Stärke, denn hier konnte ein Waffenversandzentrum für die Ukrainer geschaffen werden.
ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.
ist Chefredakteur des polnischen Online-Wochenblatts Kultura Liberalna und Pop-Back-Fellow an der Universität Cambridge.
Nicht mehr am gleichen Strang
Zudem haben Warschau und Budapest in den letzten Monaten unterschiedliche Positionen eingenommen. Während Viktor Orbán Sympathien für den russischen Präsidenten zeigt, findet sich Jarosław Kaczyński im Lager seiner schärfsten Kritiker wieder. Und die polnische Gesellschaft hat Millionen von Flüchtlingen unter ihrem Dach aufgenommen.
Ist es nicht mehr angebracht, Polen zu kritisieren? Hat sich die Regierung in Warschau nun ein Alibi verschafft, um populistische Macht auszuüben, die Unabhängigkeit der Justiz und der öffentlichen Medien zu zerstören? Für Menschen wie uns, die die letzten Jahre damit verbracht haben, zu analysieren, was mit Polen nach 2015 passiert ist und warum die Wähler beschlossen haben, den Weg, den unser Land 1989 eingeschlagen hat, zu verlassen, ist diese Veränderung zu ernst, als dass wir uns nicht gründlich damit beschäftigen sollten.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Kritik an Polen kein Ende nahm. Sowohl die Europäische Kommission als auch der Straßburger Gerichtshof haben daraufhin gehandelt. Nun scheinen viele Menschen und Institutionen in rätselhaftes Schweigen zu verfallen. Unter geopolitischen Gesichtspunkten ist das aktuelle Vorgehen der EU in Bezug auf Polen natürlich sehr sinnvoll. In der Ukraine sterben jetzt Menschen, und in Europa stehen wir vor der schwersten Energiekrise der letzten Jahrzehnte.
Vielleicht lohnt es sich also, für eine Weile vom „business as usual“ abzuweichen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir uns nicht mehr mit der polnischen Demokratie beschäftigen werden, und was davon übrig ist, sondern nur, dass man etwas später darauf zurückkommen wird, denn paradoxerweise haben die illiberalen Politiker Polens und die Demokraten in Westeuropa heute das gleiche Interesse, wenn es um die Ukraine geht. Das Problem, dass sich Warschau keiner prodemokratischen Veränderung unterzogen hat und das auch keinesfalls beabsichtigt, bleibt jedoch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag