Krieg in der Ukraine: Das Privileg, weiterleben zu können
Viele Menschen interessieren sich nicht mehr für die Ereignisse in der Ukraine. Und begreifen nicht, was für eine Freiheit das ist.
Der Krieg war am Anfang meines Lebens, ich erfahre ihn auch jetzt, an dessen Ende“, sagte der Historiker und Shoa-Überlebende Boris Zabarko im Mai bei einer Gedenkveranstaltung im KZ Dachau. Er sagte es auch diese Woche an einem Abend in Berlin.
Eigentlich sollte Zabarko, Ukrainer und Jude, über das Erinnern in seinem Heimatland sprechen. Darüber, wie er erst nach dem Zerfall der Sowjetunion begann, in der Ukraine Zeugnisse anderer Überlebender zu sammeln und zu publizieren; es sollte darum gehen, wie Zabarko selbst viele Jahrzehnte seines Lebens nicht in der Lage war, über seine Erfahrung im Ghetto und als Historiker über den Holocaust zu sprechen, weil die Shoa ein Tabuthema war in der Sowjetunion. Die Vergangenheit, die war Thema des Abends. Aber wie über das Vergangene sprechen, wenn die Gegenwart sie gerade so schmerzhaft berührt?
Zabarko, geboren 1935, überlebte als Kind das Ghetto Schargorod in Transnistrien. Von 1941 bis 1944 war dieses Gebiet rumänisches Besatzungsgebiet unter deutschem Einfluss. Nun also, 77 Jahre nach Kriegsende, fielen wieder Bomben, Putins Bomben, auf Kyjiw, auf eine europäische Stadt, und Zabarko war gezwungen, ein paar Dinge zusammenzupacken und sein Zuhause zu verlassen. Zerstörung, Bomben, Hunger, Verbrechen. Der Tod geliebter Menschen. Für Menschen wie Zabarko wiederholt sich hier ein Trauma. Der aktuelle Krieg sei die zweite Katastrophe in seinem Leben, sagte er.
Man kann sich sehr theoretisch die Frage stellen, wie die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in Europa mit dem Krieg heute zusammenhängt. Man kann versuchen, Bezüge herzustellen zwischen damals und heute. Einige Historiker tun das auch. Putin legitimiert seinen Einmarsch damit, die Ukraine „denazifizieren“ zu wollen. Er missbraucht das antifaschistische Erbe der Sowjetunion, um einen Angriffskrieg zu führen. Geschichte wiederholt sich zwar nicht. Aber natürlich hängen Damals und Heute unweigerlich miteinander zusammen. Das wird an Menschen wie Zabarko deutlich.
Zabarko erzählte von seiner Flucht aus Kyjiw im März. Davon, wie er es mit seiner Nichte nach einer Station in Uschgorod bis nach Budapest schaffte, dort von einem anderen Überlebenden aufgenommen wurde und am Ende im Flieger nach Deutschland zu Verwandten saß und auch noch an Corona erkrankte. Er erzählte auch von einem Moment des Glücks, als er über Stunden im Gang in einem vollen Zug hinaus aus der ukrainischen Hauptstadt stehen musste. Der Zug, sagte er, fuhr weg von den Bomben, er fuhr Richtung Leben und nicht in den Tod.
Damals flohen Menschen vor den Nationalsozialisten. Heute fliehen Shoa-Überlebende nach Deutschland. Ausgerechnet nach Deutschland. Ist das überhaupt greifbar?
In Berlin ist jetzt Sommer. Die Ukrainefahnen, die nach dem 24. Februar an viele Balkone gehängt wurden, sehen mitgenommen aus. Das Blau-Gelb verliert seine Strahlkraft, und auch die anfängliche symbolische Solidarität lässt langsam nach. Nach über 100 Tagen Krieg sind die Menschen, so nehme ich es wahr, müde geworden, sich weiterhin jeden Tag mit dem Leid der Ukrainer zu beschäftigen. Irgendwie muss man sein Leben ja weiterführen. Arbeiten gehen, Freunde treffen, glücklich sein. Ich glaube, selbst nach dieser Zäsur, die der Angriffskrieg für Europa bedeutete, haben noch immer viele nicht verstanden, was für ein Privileg es ist, das tun zu können.
Auch wenn der Krieg irgendwann vorbei und die Ukraine frei sein wird, für Zabarko wird das Leben danach noch härter, noch schwieriger werden, sagte er. Ich kann diesen Satz nicht vergessen. Wird er jemals diese zweite Katastrophe überwinden können?
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