Ein Denkmal ist mit Sandsäcken geschützt, nur eine Kopf schaut heraus, die Häuser in der Altstadt leuchten gelb

Foto: Nacho Doce/reuters

Krieg in der Ukraine:Ach Odessa, du wunderschöne Perle

Die Stadt besitzt ein Opernhaus, aber keine Festung. Odessiten sprechen Russisch, aber lehnen Russland ab. Ein Blick auf die Stadt der Schlitzohren.

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22.4.2022, 11:10  Uhr

Zu normalen Zeiten genügt Armand du Plessis Herzog von Richelieu eine gewöhnliche Toga. Derzeit hat er zusätzlich einen schusssicheren Mantel umgelegt, der ihm bis zum Hals reicht. Die Odessiten haben ihrem Gouverneur Hunderte, vielleicht über eintausend Sandsäcke umgelegt, damit der Herzog von Richelieu nicht etwa leiden muss, weil Barbaren von russischen Landungsschiffen die berühmte Potemkinsche Treppe hinaufstürmen könnten, um Odessa, seine Stadt, zu erobern.

Wie soll man eine Stadt aufbauen? Andere hätten die Polizei verstärkt. Richelieu ließ eine Oper bauen

Dem Franzosen, ab 1803 Statthalter von Odessa, waren solche Grobheiten völlig fremd. Konflikte gab es in seiner Stadt trotzdem. Es lebten dort schließlich Griechen, Italiener, Armenier, Juden, Deutsche, Polen, Moldauer, Russen und Ukrainer natürlich auch. Wie soll man mit diesem Vielvölkergemisch eine Stadt aufbauen? Andere hätten die Polizei verstärkt. Richelieu ließ eine Oper bauen. Wer am Abend ins Theater geht, wer gar im Chor singt, wird am nächsten Morgen nicht über den anderen herfallen. Das ist der Geist von Odessa!

Die erste Oper ist bald abgebrannt, die zweite steht noch und ist weltbekannt. Odessa hat keine Festung, keine Burg, auch keine Residenz für die Zaren im fernen Petersburg – sondern ein Opernhaus. Was für ein Statement. Auch davor stapeln sich inzwischen die Sandsäcke. Geht man um das Opernhaus herum, weiter über die Deribassow-Straße, erreicht man bald den Stadtgarten, ein parkartiges Karree mitten im Herzen der Stadt, ein wunderbarer Treffpunkt.

Es war ein freundschaftliches Gespräch, das ich mit dem Gewerkschaftsaktivisten Andrej Isch­tschenko in einem Straßencafé dort, irgendwann vor der Pandemie, geführt habe. Hier hatten bis 2006 die Künstler ihr Atelier unter freiem Himmel und hier erzählte Andrej Ischtschenko von seiner Vergangenheit. Und die ähnelt einer Achterbahnfahrt, so wie die Geschichte seines Landes. In jungen Jahren war er Nationalist, regionaler Chef der rechtsradikalen Bewegung „Ukrainische Nationalversammlung“ von Odessa. Doch vom Nationalismus sei er inzwischen abgekommen, berichtete er, habe nun viel Sympathien für den Berufsrevolutionär und Lenin-Freund Leo Trotzki und engagiere sich in der unabhängigen Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“.

Doch dann auf einmal ergiff er blitzschnell mein Handy, steckte es in seine Seitentasche und stand auf. „Sie können doch nicht einfach mein Handy zu sich nehmen!“, protestierte ich. „Sie haben recht“, sagte Ischtschenko, lächelte, setzte sich wieder und rückt das begehrte Mobiltelefon heraus. „Aber das ist eben meine Antwort auf Ihre Frage, was ich von der Krim-Annexion halte.“

Männer und Frauen sitzen in orangen Warnwesten, einige spielen Gitarre, andere singen im Schutzraum

So sind die Odessiten: Freiwillige Helfer verkürzen eine Pause durch eine Gesangseinlage Foto: Vincenzo Circosta/Zuma/dpa

Gerade als Linker könne er nicht verstehen, sagte Ischtschenko, wie andere Linke den Raub der Krim durch Russland rechtfertigten, übrigens auch in Deutschland. Ischtschenko erwies sich genau dadurch als echter Odessit. Denn jedem, der in dieser Stadt geboren wurde, wird ein Sinn nachgesagt für Cleverness, Gerissenheit und Pfiffigkeit. Der Stadtgarten ist auch dafür der beste Ort. Dazu später mehr.

Zunächst aber weiter mit der aktuellen Politik: Schuld am Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, so hatte Ischtschenko mehrfach betont, sei das internationale Großkapital. Stolz ist er daher auf Leo Trotzki, der in der Nähe von Odessa auf die Welt gekommen ist und einen Großteil seiner Schulzeit dort verbracht hat.

Sichtlich bewegt zeigte Ischtschenko immer wieder Besuchern die Orte von Trotzkis Wirken in Odessa, das Gefängnis, in dem er inhaftiert war, die Schule, die er besucht hatte, und das Haus, in dem er viele Jahre gelebt hatte. Lächelnd hatte Ischtschenko zur Kenntnis genommen, dass andere Linke eher Sympathien für Wladimir Putin entwickelt hatten. Die seien eben nicht gut informiert, hatte er fast entschuldigend über sie gesprochen.

Wie ein Gewerkschafter zum Soldaten wird

Das war gestern. Nun ist es vorbei mit der Äquidistanz. Putin hat mit seinem Überfall Isch­tschenkos Heimat und seine Heimatstadt angegriffen. Noch im Februar entschied sich der Gewerkschaftsaktivist Ischtschenko, sich mit der Waffe in der Hand den Russen entgegenzustellen. Und nun schmückt nicht mehr der lächelnde Gewerkschafter Andrej Ischtschenko, sondern der Soldat in Kampfmontur, mit Gewehr und erhobener Faust sein Facebook-Profil.

Ein riesiger Stuhl auf einem Denkmal, dahinter Panzersperren in einer Strasse

Ein großer Stuhl als Denkmal für zwei bemerkenswerte Schriftsteller Foto: Viacheslav Onyshchenko/imago

„Ich denke, nach dem Massaker von Butscha hat die Ukraine jedes Recht, einen Befreiungskrieg gegen russische Bürger in der ganzen Welt zu entfesseln,“ schreibt Isch­tschenko, bis Kriegsbeginn „nur“ Tierschutz- und Umweltaktivist. Und er schiebt hinterher: „Außer, wenn sie öffentlich diese Aggression verurteilen.“

Odessa, die Millionenstadt, ist immer für eine Überraschung gut. Im Stadtgarten haben sich immer schon auch die Überlebenskünstler getroffen, hier haben sie der Nachwelt ihre Denkmäler hinterlassen, etwa den riesigen Bronzestuhl in der Mitte des Parks. Das Schriftstellerduo Ilja Ilf und Jewgenij Petrow hat hier in Odessa zwei seiner Helden aus dem Roman „Das goldene Kalb“ einem Millionär auflauern lassen. Und der überdimensionierte Stuhl gehört zu den legendären „zwölf Stühlen“. So heißt das Erstlingswerk des Duos, das die beiden berühmt gemacht hat.

Darin geht es um Brillanten, um Habgier, um höchst verdorbene Zeitgenossen, darunter einen Popen, einen ehemaligen Adligen und um ein Schlitzohr, den „Großen Kombinator“, der sich als Einziger wie ein Fisch im Wasser im neuen Sowjetsystem bewegt, weil das neue System so neu gar nicht ist und Ganoven immer irgendwie durchkommen. Die Oligarchen dieser Welt lassen grüßen. Odessa ist seit seiner Gründung auch ein Zentrum der Halb- und der Unterwelt.

Den lockeren Soundtrack dazu liefert die Jazzlegende Leonid Utjossow, der im Stadtgarten als Bronzefigur gemütlich auf einer Bank sitzt. Utjossow, eigentlich Lazar Waisbain, in Odessa geboren, hatte 1928 in Paris erstmals Jazz gehört. Ein Jahr darauf hatte er das erste sowjetische Jazzorchester gegründet. Odessa ist eben nicht nur große Oper, sondern auch Jazz. Und Jazz war meist verpönt in der Sowjetunion.

Panzersperren auf der Prachtstraße

Die Stadt Die Stadt am Schwarzen Meer hat über eine Million Einwohner. Hier befindet sich der wichtigste Hafen der Ukraine. Sie gilt deshalb als militärisch besonders bedeutsam. Bisher blieb Odessas Zentrum vom Krieg verschont, aber Raketen sind in den Außenbezirken eingeschlagen.

Die Geschichte Zwei Jahre nach der Eroberung der Region durch das Russische Kaiserreich wurde Odessa 1794 auf Anweisung von Katharina der Großen gegründet. Viele Juden und Angehörige anderer Minderheiten siedelten sich an. Berühmte Schriftsteller und Politiker wie Isaak Babel oder der Zionist Wladimir Jabotinsky stammen aus der Stadt.

NS-Besatzung Nach dem Ersten Weltkrieg geriet Odessa erst ab 1920 in die Hand der Sowjets, zwei Jahre später wurde sie Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik. 1941 eroberten deutsche und rumänische Truppen Odessa. Während der Besatzungszeit bis 1944 wurden dort etwa 60.000 Einwohner ermordet, größtenteils Juden.

Heute Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde Odessa Teil der unabhängigen Ukraine. Auch wenn die große Zeit des multikulturellen Odessas längst Geschichte ist, so leben dort immer noch viele Angehörige von Minderheiten, darunter Griechen, Bulgaren, Juden, Armenier und Belarussen. (taz)

Leider ist davon derzeit wenig zu hören. Die Deribassow-Straße, die Prachtmeile, gibt es in dieser Form, wie ich sie vom Gespräch mit Isch­tschenko in Erinnerung habe, nicht mehr. Die Sowjets hatten diese Straße viermal umbenannt. Sie hätten es vierzig Mal tun können, für die Odessiten blieb sie die Deribassowa. Die Straße ist nach Don José de Ribas benannt, Neapolitaner mit spanischen und irischen Wurzeln.

Er war Admiral der russischen Flotte, er eroberte die türkische Festung, die dort stand, wo Odessa heute ist, er wurde von Katharina der Großen mit Brillanten dekoriert, er leitete den Aufbau der Stadt, er träumte von Odysseus und von Alexander dem Großen – und er soll die Kaiserin geschwängert haben, kurzum – ein echter Odessit. Unterkriegen lassen die sich nicht.

In Odessa ist man Patriot. Patriot der Stadt. In keiner Stadt der Ukraine sieht man die Stadtfahne so häufig, an Straßenecken und Bussen

Mittlerweile verstellen Panzersperren die Straße. Es ist still geworden hier. Die Touristen sind weg. Und Ischtschenko beteiligt sich nicht mehr an Mahnwachen für Tierrechte, Frauenrechte und Gewerkschaftsaktivisten. Er wohnt auch nicht mehr in der Straße, die den Namen des berühmten russischen Barden Wladimir Wyssozkij trägt. Ischtschenko fordert inzwischen, das Denkmal für Zarin Katharina die Große im Stadtzentrum zu schleifen, und er bezeichnet die russische Armee als Hitler-Faschisten.

Ischtschenko ist nicht der einzige Odessit, den man nach dem 24. Februar nicht mehr wiedererkennt. Auch Bürgermeister Gennadi Truchanow, ein Odessit mit exzellenten Beziehungen zur Unterwelt, seit Mai 2015 im Amt, hat Medien, Stadtrat und die Geschäftswelt der Stadt fest im Griff. Truchanow, 51 Jahre alt, durchtrainiert, im Hobby Thaiboxer, war mehrere Jahre ausgerechnet Chef des Werkschutzes in der Filiale des russischen Ölkonzerns Lukoil in Odessa. Immer wieder wird gemunkelt, der Mann habe neben der ukrainischen auch die russische Staatsbürgerschaft.

Doch mit Kriegsbeginn zeigte sich Truchanow als entschiedener Gegner Russlands. Odessa sei seine Mama, sagte er nach Kriegsbeginn. „Odessa Mama“ nennen die Einwohner liebevoll ihre Stadt am Meer. Man werde um jede Straße kämpfen, zitiert die Ukrajinska Prawda Truchanow. Präsident Wolodimir Selenski bekannte, das Verhalten von Gennadi Truchanow habe ihn „angenehm überrascht“.

Landkarte

In Odessa ist Russisch zu Hause. Man hört es in den Bussen und Zügen. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen. Odessas Vorliebe für die russische Sprache ist nicht gleichzusetzen mit Sympathien für Russland, schon gar nicht für Putins Russland. In Odessa ist man Patriot. Patriot der Stadt. In keiner Stadt der Ukraine sieht man die Stadtfahne so häufig, an Straßenecken und Bussen.

Die Stadt war seit ihrer Gründung das, was die Ukraine jetzt mit aller Macht werden will – europäisch. „Odessa ist die einzige Russisch sprechende Stadt auf der Welt, die europäisch ist“, sagte eine Touristin, mit der ich einige Stunden gemeinsam in einem Zugabteil auf dem Weg in die Stadt verbracht hatte. Für die Machthaber in St. Petersburg und Moskau blieb der respektlose, tolerante Geist der Stadt immer etwas Fremdes.

Etwas „Unrussischeres“ als Odessa gibt es im ganzen Imperium kaum. Abenteuerlustige aus allen Ländern, aufgeklärte Freigeister, Unternehmer kamen ab 1794 ans Schwarze Meer, an den Rand der Steppe. Kirchen aller Konfessionen entstanden, Juden durften sich niederlassen, Bauern flohen aus den Dörfern, diese neue Stadt sprach sich herum und blieb in den Köpfen, auch bei denen, die ihrem Ruf doch nicht folgen konnten – der „Mythos Odessa“ war geboren.

Keine Leibeigenschaft, keine Mauern, kein Schloss, beseelt vom klassischen Ideal, ohne Höflinge und Schranzen und, nicht unwichtig, fern der russischen Hauptstadt – ein echter Aufbruch Ost. Mark Twain schwärmte 1867 über die Stadt: „Wir blickten die Straße hinauf, wir blickten hinunter, in diesen Weg oder jenen, wir sahen immer nur Amerika!“

Zwei Weltkriege, Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Repression und Isolierung hätten der Stadt fast die Luft genommen. Odessa, die internationale Metropole, wurde ukrainisch. Mit dem Konflikt zwischen Kiew und Moskau geriet sie, die Friedliche, ins Spannungsfeld. Vom Bahnhof, wo man mit feierlicher Musik empfangen wird, lohnt sich ein Abstecher zum fünf Minuten entfernten Gewerkschaftshaus. Der Weg führt zu einem riesigen Platz, dem Kulikowe Pole. Auf diesem befindet sich das weiße Gewerkschaftshaus. Stets stehen einige Polizisten davor. Seit dem 2. Mai 2014 ist das Gebäude geschlossen.

Die Toten vom Mai 2014

Hier waren vor acht Jahren, am 2. Mai 2014, prorussische Demonstranten bei einem Feuer ums Leben gekommen. Nachdem bei Straßenschlachten zwischen Anhängern und Gegnern der Maidan-Bewegung in der Innenstadt zwei proukrainische und vier prorussische Demonstranten erschossen worden waren, hatten sich zwei unterschiedliche Demonstrationszüge zum Gewerkschaftshaus aufgemacht. In der Folge waren Anti-Maidan-Aktivisten in das Gewerkschaftshaus geflüchtet und hatten sich dort verschanzt. Als dort wenig später ein Feuer ausbrach, konnten sich 42 Personen nicht mehr retten. Heute noch kommen täglich Menschen dort vorbei, legen wortlos Blumen ab und gehen weiter.

Die offizielle Ukraine ignoriert die Opfer des 2. Mai 2014. Und wenn sich zum Jahrestag Menschen auf dem Platz einfinden wollen, um der Toten zu gedenken, kommt es immer wieder vor, dass der Ort von der Polizei gesperrt ist. Der 2. Mai 2014 ist für die Bewohner von Odessa, die die Maidan-Bewegung ablehnen, ein schmerzliches Datum.

Nicht nur die Herrscher in Petersburg und Moskau fremdeln mit der Stadt, die Ukrainer ebenso. Bis zum Ersten Weltkrieg waren kaum zehn Prozent der Einwohner christliche Ukrainer. Dafür umso mehr Juden. Einer von ihnen war Isaak Babel. Babel fühlte sich gleichermaßen als Russe und als Jude – und er hatte einen Traum: Er wollte diese beiden Identitäten zusammenführen. Aus Odessa, so Babels Hoffnung, sollte derjenige kommen, der im nebligen kalten Russland endlich die Sonne besingt.

Babel schließt sich der Oktoberrevolution an, hofft auf Befreiung, nimmt als Berichterstatter 1920 am Polenfeldzug der Roten Armee teil, hofft auf die Synthese seiner beiden Identitäten. Doch die Revolution will Menschen befreien, aber stiftet nur Chaos. „Wie wir die Freiheit bringen – schrecklich“, vertraut er seinem Tagebuch an. Eine „nicht endende Totenmesse“ sei der Krieg, notiert Babel weiter, der 1940 in einem Stalin’schen Folterkeller erschossen wird. Beklemmend aktuell lesen sich Babels Notate.

Die Katakomben unter der Stadt

Und eine beklemmende Aktualität erhalten auch die alten Gänge unter der Stadt. Kurz nach der Gründung 1794 begann man, unter der Stadt Sandstein abzubauen. Schnell bildete sich mit den Stollen ein weit verzweigtes, unterirdisches Netz. Mit der Zeit hatte fast jedes Haus irgendwo einen Zugang zu diesem Labyrinth. Und dort unten, in den Katakomben, galten die Regeln und Gesetze der Oberwelt nicht mehr.

Auf der Rasumowskaja-Straße im Stadtteil Moldawanka, wo Babel seine jüdischen Gauner angesiedelt hat, der großartigste war Benja Krik, steht heute eine kleine und verrostete Bauhütte. Hier bekommt man einen blauen Helm und eine Taschenlampe in die Hand gedrückt und dann geht es schon hinunter über eine Eisentreppe in die berühmten Katakomben von Odessa. Kein Mobiltelefon funktioniert mehr.

Nach der quietschenden und angerosteten Treppe hängen an den kalten Wänden Plakate aus der Zeit des Kalten Krieges, die erklären, wie man sich bei einem nuklearen Angriff am besten schützen könne. Mehrere tausend Menschen hätten bei einem Atomkrieg in diesen Katakomben überleben können.

Betreten darf man die Katakomben von Odessa nur mit einem ortskundigen Führer. Wer sich auf eigene Faust umsehen will, der ist spätestens dann, wenn die Taschenlampe nicht mehr leuchtet, verloren. Dann sieht er nicht einmal mehr seine eigene Hand vor den Augen. Die Hilfeschreie werden von den Gängen geschluckt.

Ein Rundgang durch das glitschige Labyrinth zeigt, dass die Katakomben schon viel gesehen haben. Hier haben sich Menschen versteckt, hatten Freimaurer ihre heimlichen Treffen. Und die Partisanen hatten hier während der Besatzung durch die Deutschen und Rumänen ihr Quartier. Ein kleines Museum in den Katakomben stellt unzählige Dokumente dieser Zeit, alte Betten, Uniformen und Fotos der Partisanenführer aus.

Auch Kriminelle vom Schlage eines Benja Krik haben hier gehaust. Hier versteckte man Mädchen, die man zuvor entführt hatte. Hier wartete man, ob jemand nach den verschwundenen Mädchen sucht. Und wenn die Suche eingestellt war, verschiffte man das Mädchen direkt über den Hafen in ein arabisches oder ein anderes Land, wo sie in einem Harem oder Bordell landeten.

Sollte es in diesem neuen Krieg zum Straßenkampf kommen, werden die Russen keine Chance haben. Wieder werden sich Partisanen in Odessas Katakomben verstecken und losschlagen. Die meisten Eingänge in das Labyrinth sind zugebaut, aber man kann getrost davon ausgehen, dass es zur Verteidigung gehört, die Zugänge in das Labyrinth wieder freizulegen. Odessiten sind schließlich clever. Sie waren es von Anfang an.

Für sie gibt es nur die eine „Odessa-Mama“. Oder, wie es die Jazz-Legende Leonid Utjossow in einem seiner Gassenhauer formulierte: „Ach Odessa, du wunderschöne Perle am Meer, ach Odessa, du hast schon so viel Leid erfahren!“ Odessa wird auch diesen Krieg überleben.

Mitarbeit Thomas Gerlach

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