Krieg in der Ukraine: „Hat Putin Kinder?“, fragt meine Tochter
Die Autorin Lana Lux zog 1996 als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und begann, sich vor ihrem Geburtsland Ukraine zu fürchten. Das hat sich nun geändert.
Seit Donnerstag, den 24. Februar 2022, erreichen mich unablässig Nachrichten von Menschen, die bei den schrecklichen Schlagzeilen aus der Ukraine sofort an mich denken. Dabei habe ich nur eine zarte, gerade erst wieder erblühende Beziehung zu diesem Land. Meinem Geburtsland.
1986: Ich komme in Dnipro in der Ostukraine zur Welt. Meine Mutter spricht Russisch. Mein Vater spricht Russisch. Meine Tante spricht Russisch. Meine Oma spricht ein sehr witziges, falsches Russisch und manchmal auch gar kein Russisch, sondern Jiddisch.
Ich bin fünf Jahre alt, als ein Mädchen im Kindergarten zu mir sagt, ihr Vater hätte es ihr verboten, mit Jüdinnen zu spielen. Ich habe früh verstanden, dass das Land, in dem ich lebe, nicht mein Land ist, dass meine Eltern ausreisen wollen. Irgendwann. Vielleicht bald. Ich lebe in ängstlicher Erwartung des Aufbruchs.
1991: Die Sowjetunion ist endgültig Geschichte. Man sagt uns Kindern, dass die Ukraine jetzt unabhängig sei. „Unabhängig von was?“, frage ich. Irgendwie hat keiner Zeit, mir das richtig zu erklären. Ich versuche aus den Gesprächsfetzen der Erwachsenen schlau zu werden, sitze still neben ihnen vor dem Fernseher und schaue mir die Gewalt in den Nachrichten an. Verbrechen, Entführungen. Zwangsprostituierte Frauen. Der Tschetschenienkrieg.
wurde 2016 mit ihrem Blog „ 52 Schabbatot – Jüdische und unjüdische Geschichten“bekannt. 2017 erschien ihr erster Roman, „Kukolka“, 2020 ihr zweiter, „Jägerin und Sammlerin“, im Aufbau Verlag
Im Kindergarten gibt es für uns gerade zwei wichtige Fragen zu klären: Erstens: Was ist besser: ein Penis oder eine Vulva? (Natürlich haben wir Kinderwörter dafür verwendet.) Und zweitens: Wer ist besser: ein Russe oder ein Ukrainer? Bei Frage eins bin ich mir unsicher. Bei Frage zwei halte ich mich lieber ganz heraus.
Weil die Ukraine jetzt unabhängig ist, wird künftig alles auf Ukrainisch sein, sagen sie uns. Auch die Schule. Darum müssen wir fleißig Ukrainisch lernen. Ich will aber kein Ukrainisch lernen. Ich will meine ganz normale Sprache sprechen! Das Leben ist auch so schon beschwerlich genug.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Immer wieder haben wir kein Gas, kein Wasser oder Strom. Immer wieder müssen wir für Lebensmittel anstehen. Stundenlang. Es gibt keine Fahrpläne, wir warten ewig auf Busse. Die Busfahrer lieben es, mit uns Passagieren ein Spiel zu spielen: Sie halten weit vor der Busstation, und während wir alle hinrennen, fahren sie wieder los und kommen erst weit hinter der Haltestelle wieder zum Stehen. Die Busse sind so voll, dass die Türen häufig nicht zugehen. Einmal werden meiner Mutter in so einem überfüllten Bus die Rippen gebrochen. Nicht alle, nur drei.
1996: Wir sind ausgereist. Ausgerechnet nach Deutschland. Gelsenkirchen heißt die neue Stadt. Wann immer die Kinder in der Ukraine Krieg gespielt haben, haben sie Lose gezogen, wer die Nemzy spielen musste. Ein Wort, das eigentlich nur „Deutsche“ heißt, aber „Nazis“ meinte. Kein Kind wollte freiwillig Nazi sein. Ich frage mich, ob die ukrainischen Kinder künftig Lose ziehen werden, wer die Russen spielt?
Ich habe Krieg nie mitgespielt. Es hat mir zu viel Angst gemacht. Wirklich: Todesangst. „Ist nur ein Spiel“, haben die anderen mir zugerufen. „Sei nicht feige!“ Nun, in Deutschland, möchte ich beim Völkerball nicht mitspielen, weil es mich ans Kriegspielen erinnert und ich wieder diese unsagbare Angst spüre, die mir das Denken vernebelt.
Kurz vor der Ausreise wurden unsere Namen ins Ukrainische übersetzt. Mein Vater, der Wladimir heißt, wurde zu Wolodymyr. Unsere Nachnamen verloren das „Ja“ am Ende. Aus Chukovskaja wurde Chukovska. Im Kyrillischen besteht das „Ja“ nur aus einem Buchstaben, der gleichzeitig „ich“ bedeutet.
Es dauert lange, bis ich aufhöre, das „Ja“ anzuhängen, wenn man mich nach meinem Nachnamen fragt. Im Gelsenkirchen der 1990er Jahre kennt man mein altes Land nicht. „Die Ukraine, ist das irgendwo in Russland?“, fragen sie. Meine Muttersprache ist Russisch, also werde ich zu einer Russin gemacht. Ich wehre mich nicht. Wer Ausländer nicht per se schlecht findet, findet Russen immerhin ganz okay.
Erst als Jugendliche höre ich auf, die Russin zu spielen. Werde ich gefragt, ob ich eine sei, sage ich nein, ich sei in der Ukraine geboren. „Bist du also Ukrainerin?“, fragen sie – „Nein, ich bin Jüdin“, antworte ich. „Wenn du nicht religiös bist, dann bist du keine Jüdin. Was ist an dir jüdisch?“, fragen sie weiter. Was an mir außer der Staatsangehörigkeit ukrainisch ist, fragt keiner.
Seit meine Tante und meine Jiddisch sprechende Oma zu uns nach Deutschland emigriert sind, verliere ich jegliches Restinteresse an der Ukraine. Meine Ukraine ist eine abgeschlossene Erfahrung. Ich habe sie zusammen mit meiner Kindheit behutsam in ein steriles Glas gelegt, beides mit salzigen Tränen begossen und den Deckel fest zugeschraubt. Das Konservieren habe ich von meiner Oma gelernt.
2014: Erst mit dem Euro-Maidan und dem daraus resultierenden Krieg im Osten des Landes bekommt die Ukraine wieder etwas Aufmerksamkeit von mir. Wer kämpft dort gegen wen? Warum? Zeitgleich steht mein eigenes Leben in Flammen. Ich lebe inzwischen in Berlin, bin schwanger, muss operiert werden, stecke in großen finanziellen Schwierigkeiten.
Auf den Straßen schreien propalästinensische Demonstranten: „Scheiß Juden, wir bringen euch um!“ Ich habe keine Kraft, mich näher mit dem mir inzwischen so fernen Land zu befassen, in dem ich geboren bin. Meine Mutter erzählt von Nationalisten und von Faschisten in der Ukraine. Von Übergriffen und Pogromen auf russischsprachige Menschen. Ich habe Angst vor der Ukraine.
Ebenfalls 2014 beginne ich mit der Arbeit an meinem ersten Buch. „Kukolka“ heißt der Roman, für den ich ein Stück der konservierten Ukraine aus meinem Schraubglas nehme, um es der Protagonistin Samira zu leihen, einem Waisenmädchen, das zur Kriminalität erzogen und schließlich zwangsprostituiert wird. Noch ahne ich nicht, dass dieses Buch mich auch persönlich wieder in engeren Kontakt mit der echten Ukraine bringen wird.
2018: Ein Jahr nachdem „Kukolka“ erschienen ist, lerne ich D. kennen. Eine deutsche Frau in meinem Alter, die in der Ukraine lebt und für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) arbeitet. Sie lädt mich zu einem Literaturfestival ein, zu dem ich nicht kommen kann. Später fragt sie, ob ich mich den Volontären anschließen möchte, die die kleine jüdische Community von Lwiw im Westen des Landes unterstützen. Es gehe darum, die verlassenen jüdischen Friedhöfe und Mahnmale der Massenerschießungen von Juden während der Shoa zu pflegen. Ich sage zu – und es wird zu einer Erfahrung, die alles verändert. Danach fliege ich noch einmal in die Ukraine. Und noch einmal. Und noch einmal.
2021: Im September lande ich erneut in Kiew. D. schließt mich in ihre Arme. Inzwischen hat sie ihren ukrainischen Partner geheiratet. Sie wollen Kinder, erzählen sie, ihre Wohnung ist frisch renoviert und stylisch eingerichtet. Der Kopf ihres Hundes liegt schwer und warm auf meinem Oberschenkel, als ich mit D., ihrem Mann und deren Freunden am Tisch sitze. Wir essen veganes Chilli aus hübschen Tonschalen, unterhalten uns auf Englisch, Russisch, Deutsch und Ukrainisch.
Ich stelle Fragen. Zunächst zaghaft. Je mehr sie erzählen, desto mehr begreife ich, wie wenig ich weiß, über das Land, in dem ich zur Welt kam – über die Ukraine von heute. Ich weiß eigentlich nur, was in meinem Schraubglas ist. Wir nehmen uns vor, im nächsten Frühling, März oder April 2022, zusammen nach Dnipro zu fahren, an meinen Geburtsort, D., ihr Mann und ich. Wieder in Berlin, beginne ich, Ukrainisch zu lernen.
Seit Donnerstag, dem 24. Februar 2022, verbessern sich meine Sprachkenntnisse rasant. Jede frei Sekunde hänge ich vor den Nachrichtenkanälen aus Kiew, Charkiw, Dnipro, in denen nicht nur Ukrainisch, sondern auch jetzt noch immer wieder und wie selbstverständlich Russisch gesprochen wird. Schon zwei Wochen vor der russischen Invasion hat der DAAD meine Freundin D. nach Deutschland zurückbeordert. Ihr Mann, zerrissen zwischen der Pflicht seiner schwangeren Frau und der Pflicht seinem Land gegenüber, blieb dort. Er will helfen. Er muss helfen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist er in Lwiw, wo stündlich Tausende von geflüchteten Menschen, vom Baby bis zum Greis, ankommen. Die Zukunft ist gänzlich ungewiss.
Sonntag, 28. Februrar 2022: Auf der großen Antikriegsdemo in Berlin trägt meine siebenjährige Tochter unser Plakat. Sie hat zwei weiße Friedenstauben darauf gemalt. I stand with Ukraine haben wir dazu geschrieben. Ich erkläre ihr, dass es ein großes Privileg ist, frei demonstrieren zu können. Und dass ich den Mut derjenigen Russen bewundere, die jetzt in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten auf die Straße gehen, obwohl sie dafür verhaftet werden.
„Ist es richtig, für sein Land zu kämpfen?“, fragt meine Tochter. „Ja“, sage ich.
„Würdest du für dein Land kämpfen?“, fragt sie. „Nein“, antworte ich. „Ich habe kein Land, zu dem ich gehöre. Ich habe Sprachen, ich habe Werte, ich habe Traditionen, ich habe Familie und Freunde, aber kein Land. Stell dir vor“, sage ich, „es gibt Menschen, die haben ein eigenes Haus, ein Erbe über Generationen vielleicht. Wenn jemand es ihnen wegnehmen will, kämpfen sie dafür. Und dann gibt es andere, wie mich, die haben nur eine Mietwohnung, und die Generationen vor ihnen haben auch immer nur Mietwohnungen gehabt. Mal hier, mal da.“
„Bist du traurig darüber“, fragt sie, „dass du kein Haus hast?“
„Nein, schon lange nicht mehr.“
„Werden wir aus Deutschland auch mal fliehen müssen?“
„Ich weiß es nicht“, sage ich, „jetzt gerade müssen andere Menschen fliehen und wir müssen sie unterstützen, so gut wir können.“
„Hat Putin eigentlich Kinder?“, möchte mein Kind nach einer Pause wissen.
„Ja“, sage ich, „zwei Töchter.“
„Ob sie sich für ihren Vater schämen?“, fragt sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich