Krieg in der Ukraine: Gespräche und Angriffe gleichzeitig
In Belarus treffen sich Unterhändler aus Moskau und Kiew. Die Ukraine verlangt kompletten russischen Truppenabzug. Russland bombardiert Charkiw.
Die Szene sollte wohl historisch wirken. Mit grimmigen Gesichtern saßen sich zwei Delegationen aus Russland und der Ukraine an einem langen weißen Tisch voller Mineralwasserflaschen gegenüber und starrten sich an, während das belarussische Protokoll Fotos des Beginns der Friedensverhandlungen für die Weltöffentlichkeit machte.
„Liebe Freunde, Präsident Lukaschenko hat darum gebeten, Sie zu empfangen, zu begrüßen und dafür zu sorgen, dass Ihre Arbeit maximal unterstützt wird“, sagte Belarus’ Außenminister Wladimir Makei in einer kurzen im Fernsehen übertragenen Ansprache. „Das alles erfolgt in Absprache mit den Präsidenten Selenski und Putin. Sie können sich hier sicher fühlen. Dafür zu sorgen ist unsere heilige Pflicht. Unser Präsident Lukaschenko hofft auf eine Lösung aller Krisenfragen, und dafür beten auch die Belarussen. Alle Bitten und Anliegen, die Sie an die Organisatoren heran tragen, werden erfüllt. Jetzt warten wir auf Resultate.“
Das Treffen fand in der belarussischen Stadt Gomel unweit der ukrainischen Grenze statt. Die Regierungen in Moskau, Kiew und Minsk hatten sich am Sonntag darauf geeinigt, um einen Ausweg aus dem Krieg zu finden, den Russland am Donnerstag vergangener Woche gegen die Ukraine begonnen hatte. Ein Ergebnis war bis Redaktionsschluss nicht bekannt. Erste Meldungen über ein vorzeitiges Ende verwandelten sich am Nachmittag in Mitteilungen über eine Pause. Die Delegationen hätten den Verhandlungsort nicht verlassen, meldete die belarussische Staatsagentur Belta.
Die Ukraine erklärte im Vorfeld einen Waffenstillstand und den sofortigen Abzug russischer Truppen von ihrem Staatsgebiet zum Ziel der Gespräche. Das schließe auch die seit 2014 von Russland annektierte Krim sowie die Separatistengebiete im Donbass ein, erklärte das Präsidialamt in Kiew. Der Kreml sagte zunächst nicht, was Russland mit den Gesprächen erreichen will. Am Abend wurde gemeldet, man fordere die Demilitarisierung der Ukraine und die Anerkennung der Krim als Teil Russlands.
UN spricht von 100 getöteten Zivilisten
Anders als üblich wurden die Gespräche nicht von einer Feuerpause begleitet. Vielmehr starteteten die russischen Streitkräfte am Montag ihre bisher verheerendsten Luft- und Raketenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine. Zahlreiche Fotos und Videos von Toten, Schwerverletzten und zerstörten Häusern in Wohnvierteln der Millionenstadt Charkiw belegen zivile Opfer des Beschusses, den Militärexperten teils als völkerrechtlich verbotene Streumunition identifizierten – die entsprechenden Raketenwerfer wurden auf Fotos identifiziert und lokalisiert. Am Sonntag war ein Versuch der russischen Armee, mit Bodentruppen nach Charkiw vorzudringen, von den Verteidigern der Stadt abgewehrt worden. In der Nacht zu Montag gab es außerdem erneut russische Luftangriffe auf Kiew.
Die Großstadt Berdjansk am Asowschen Meer unweit der Separatistengebiete des Donbass fiel derweil an die russische Armee – ihre offenbar bisher größte Eroberung. Videos vom Montag zeigen, wie die russischen Soldaten von der lokalen Bevölkerung bedrängt und beschimpft werden. Es wird nun vermutet, dass die Stadt Mariupol das nächste Ziel ist und damit ein russisch kontrollierter Korridor zwischen der Krim und den Separatistengebieten entstehen könnte.
Nach Angaben der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, wurden bei den Kämpfen bislang 102 Zivilisten in der Ukraine getötet und 304 verletzt. Die tatsächlichen Zahlen dürften „erheblich höher“ sein.
Der Süden der Ukraine ist der einzige Landesteil, in dem Russland strategisch bedeutsame Territorialgewinne verzeichnet, während im Norden weiter kein Vorankommen zu erkennen ist. Der ukrainische Generalstab erklärte, die russische Armee konzentriere sich derzeit auf die Region um die Stadt Tschernihiw nördlich von Kiew und Donezk im Osten. Militärbeobachter vermuten, die Gespräche unter belarussischer Vermittlung sollen Russland eine Atempause schaffen, um seine Offensivkräfte zu reorganisieren, nachdem der Krieg bisher nicht die gewünschten Erfolge gebracht hat.
Stationierung von Atomwaffen in Belarus
Für Belarus markiert die Gesprächsrunde auf jeden Fall eine diplomatische Aufwertung. Zeitgleich hat der belarussische Staatchef Alexander Lukaschenko an der Heimatfront einen „Sieg“ errungen. Beim Verfassungsreferendum vom Sonntag stimmten laut Wahlkommission 65,16 Prozent der WählerInnen für weitreichende, von Lukaschenko vorgeschlagene Verfassungsänderungen. Die Wahlbeteiligung lag demnach bei 78,63 Prozent.
Damit kann Lukaschenko, der das Land seit 1994 autoritär regiert, bis 2035 an der Macht bleiben. Zwar wird die Zahl der erlaubten Amtszeiten nun auf zwei begrenzt – diese Regelung soll aber erst nach der nächsten Präsidentschaftswahl in Kraft treten. Für Ex-Präsidenten sieht die Reform außerdem lebenslange Immunität vor.
Im Kontext des Krieges in der Ukraine ist besonders bedeutsam, dass die Verfassungsänderung die dauerhafte Stationierung von russischen Soldaten und Atomwaffen in Belarus ermöglicht. Die Verpflichtung, eine „atomwaffenfreie Zone“ zu bleiben, wird aus der Verfassung gestrichen, ebenso das Postulat außenpolitischer Neutralität. Demnach könnten belarussische Truppen fortan auch an Kampfeinsätzen im Ausland teilnehmen.
Die Abstimmung wurde am Sonntag von Protesten begleitet. Laut der Menschenrechtsgruppe Vjasna (Frühling) wurden in Minsk über 530 Menschen festgenommen, das Innenministerium sprach von 800.
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