Krieg in der Ukraine: Uniting for Peace

Mit Russlands Vetorecht im Sicherheitsrat schlägt die Stunde der Vollversammlung. Sie kann Schritte zur Wiederherstellung des Friedens empfehlen.

Sergiy Kyslytsya Der ukrainische Botschafter in New York mit erhobener Hand

Sergiy Kyslytsya, der ukrainische Botschafter in New York, ringt um internationale Rückendeckung Foto: John Minchillo/ap

Zu früh wurden die Vereinten Nationen in dieser Krise als handlungsunfähig abgeschrieben. Obwohl der Aggressor, ausgestattet mit einem Vetorecht, selbst im Sicherheitsrat sitzt, laufen in den UN gerade die Vorbereitungen an, ein anderes Organ, nämlich die Generalversammlung, mit dem Krieg zu betrauen. Dabei bauen sie auf einen alten Mechanismus, der es ermöglicht, in solchen Situationen an den Blockaden vorbei zu arbeiten:

Anstelle des gelähmten Sicherheitsrats tritt die Generalversammlung in einer Notstandssitzung zusammen und kann Maßnahmen empfehlen, die dazu dienen sollen, den internationalen Frieden wiederherzustellen. Das entsprechende Vorgehen heißt Uniting for Peace. Die beiden notwendigen Bedingungen hierfür scheinen erfüllt: zum einen ein handlungsunfähiger Sicherheitsrat; zum anderen die Mehrheiten, derer es bedarf, um die subsidiäre Befassung der Generalversammlung anzustoßen.

Am Freitag hat Russland, als einziges Sicherheitsratsmitglied, gegen die Resolution gestimmt, die zuvor die USA und Albanien zusammen mit 80 anderen UN-Mitgliedern eingebracht hatten. Sie verurteilt den russischen Angriff und fordert zum sofortigen Rückzug der Streitkräfte aus der Ukraine auf sowie zur Rücknahme der Anerkennung der separatistischen Regionen Donezk und Luhansk.

Mit der Ablehnung dieses Entwurfs durch Russland und den Enthaltungen Chinas und Indiens in der Sitzung vom 25. Februar 2022 liegt die erste Voraussetzung für Uniting for Peace vor, denn der Sicherheitsrat kann in dem Konflikt nicht aktiv werden. Die USA hatten bereits im Vorfeld angekündigt, in diesem Fall die Generalversammlung einzuberufen.

Wer stimmt dafür?

Die zweite Frage ist nun, ob mindestens 9 der 15 Sicherheitsratsmitglieder mit Ja stimmen werden, um eine Notstandssitzung der Generalversammlung einzuberufen. Dass China darunter sein könnte, ist unwahrscheinlich; wie sich Indien, Brasilien und die Vereinigten Arabischen Emirate positionieren werden, ist noch unklar. Sollten die nötigen Stimmen nicht erreicht werden, kann die Generalversammlung immer noch auf eigene Ini­tia­tive zusammenkommen. Dass sich dafür eine Mehrheit ausspricht, scheint plausibel.

Nimmt sich die Generalversammlung des Russland-Ukraine-Konflikts an, wird es, im besten Fall, auf ein zweistufiges Verfahren hinauslaufen. Im ersten Schritt würde sich die Generalversammlung an dem Resolutionsentwurf orientieren, der bereits für den Sicherheitsrat erarbeitet wurde, und das leisten, was eigentlich die wichtigste Kompetenz des Sicherheitsrats nach Artikel 39 der UN-Charta ist: den Bruch des internationalen Friedens durch eine Angriffshandlung feststellen und diesen verurteilen.

Damit einher wird die Aufforderung an Russland ergehen, die Kampfhandlungen einzustellen und die Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Die bisherigen Uniting-for-Peace-Resolutionen sind – mit Ausnahme des Koreakriegs – über diese Stufe kaum hinausgegangen. Dennoch könnte sich die Generalversammlung im zweiten Schritt – in Folgeresolutionen – für all die Maßnahmen aussprechen, die im Normalfall das Repertoire des Sicherheitsrats nach den Charta-Kapiteln VI (friedliche Streitbeilegung) und VII (Zwangsmaßnahmen) umfasst.

Wirkungsvoll auch ohne Rechtsverbindlichkeit

Im Unterschied zu den rechtsverbindlichen Beschlüssen des Sicherheitsrats haben die Resolutionen der Generalversammlung zwar nur Empfehlungscharakter. Nichtsdestotrotz wirken sie als Ausdruck des Willens der internationalen Gemeinschaft zweifach: vorschreibend („soll“) und legitimierend („darf“). Gerade jetzt sind beide Funktionen unerlässlich. Einerseits würden die Maßnahmen, die eine Uniting-for-Peace Resolution empfiehlt, zu starken Geboten.

Sie würden vermitteln, was die Weltgemeinschaft in der aktuellen Situation als angemessenes Handeln ansieht. Sie verstärken den Handlungsdruck und erzeugen zudem einen besonderen Rechtfertigungsdruck, wenn man von ihnen abweicht. Andererseits würde eine UN-Resolution den Maßnahmen eine Legitimation verleihen. Dies wäre bei all den Maßnahmen besonders relevant, die über das Recht auf Selbstverteidigung hinausgehen und als militärische Zwangsmaßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens unbedingt einer Mandatierung des Sicherheitsrats bedürfen, weil sie ansonsten völkerrechtswidrig wären.

Hätte man es mit einem anderen Gegner als dem nuklear bewaffneten Russland zu tun, würden vermutlich militärische Zwangsmaßnahmen der UN-Charta erwogen werden. Aufgrund des hohen Eskalationspotenzials ist dies jedoch nicht wahrscheinlich. Möglich und sinnvoll wäre hingegen als erstes, einheitliche nichtmilitärische Maßnahmen zu empfehlen, wie den Abbruch diplomatischer, militärischer oder ökonomischer Beziehungen mit Russland.

Statt individueller, unilateraler oder regionaler Schritte wäre aktuell ein in den UN abgestimmtes multilaterales Vorgehen hilfreich, um ein alle Staaten umfassendes, zielgerichtetes und effektives Sanktionsregime zu errichten und dessen Unterlaufen zu erschweren, zumal einige Staaten vor bestimmten Sanktionen jetzt schon zurückscheuen.

Zweitens könnte die Generalversammlung ei­ne*n Son­der­ge­sand­te*n damit beauftragen, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und ein Waffenstillstandsabkommen auszuhandeln. Ein drittes wichtiges Instrument wäre eine Beobachter- oder Friedensmission, die die Vollversammlung nicht zuletzt mit dem Auftrag entsenden könnte, die Zivilbevölkerung zu schützen, zu versorgen und einen humanitären Korridor für Flüchtlinge abzusichern.

Der Sicherheitsrat ist durch seine Struktur und Zusammensetzung nicht in der Lage, angemessen auf diese Krise zu reagieren. Das entlässt die UN-Mitglieder mitnichten aus ihrer Verantwortung, sich für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit einzusetzen. Der institutionelle Weg steht ihnen durch Uniting for Peace offen.

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ist Juniorprofessorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Sie hat gemeinsam mit Tanja Brühl „Die UNO und Global Governance“ (Springer VS 2014) geschrieben und sich in ihrem letzten Buch „Die Nicht-Entstehung internationaler Normen“ (Springer VS 2019) mit der Ermöglichung und Verhinderung normativen Wandels in den internationalen Beziehungen befasst.

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▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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